Diskriminiert der Behindertenbegriff in § 2 SGB IX ältere Menschen?

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Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gilt ein Mensch als behindert, wenn seine Körperfunktionen, seine geistigen Fähigkeiten oder seine seelische Gesundheit voraussichtlich länger als sechs Monate „von dem für sein Lebensalter typischen Zustand“ abweicht, sodass seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt ist.

Ein Maßstab für das Vorliegen einer (Schwer-)Behinderung ist also das Alter des Betroffenen. Was aber soll der „alterstypische Zustand“ sein und wie kann man ihn allgemein definieren?

So hat das bayerische Landessozialgericht bereits in einem Urteil vom 12.12.2002 (Az.: L 18 SB 22/01) darauf hingewiesen, dass weder bei sehr jungen noch bei älteren Menschen sicher bestimmt werden könne, welcher geistige, seelische oder körperliche Zustand alterstypisch sei.

Konkret zweifelte das Gericht an der Verfassungsgemäßheit des im Gesetz verwandten Behindertenbegriffs, da er ältere Menschen in ihrem Recht auf eigenständige Lebensführung verletzen könne. Dies gelte jedenfalls dann, wenn man die Anerkennung einer Behinderung bzw. die Erbringung von Leistungen nur deshalb verweigere, weil zwar Gesundheitsstörungen vorliegen, die auch die Teilhabe am öffentlichen Leben negativ beeinflussen, diese aber im hohen Alter als typisch hinzunehmen seien. Allein ein höheres Lebensalter dürfe grundsätzlich bei der Beurteilung einer Gesundheitsstörung nicht zu einer niedrigeren Einstufung des individuellen Grades der Behinderung (GdB) führen als bei einer jüngeren Person. Der zugrundezulegende Begriff der Behinderung (s.o.) könne daher insoweit gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen, der jede Benachteiligung Behinderter verbietet.

Als Beispiel führt das Gericht ferner eine Einschränkung der Beweglichkeit von Gliedmaßen und Wirbelsäule an: Wer sich kaum bewege und verhältnismäßig träge sei, sei oftmals schon in jungem Alter relativ unbeweglich, während ältere Menschen, die stets mobil und aktiv waren, auch im fortgeschrittenen Alter noch uneingeschränkt beweglich seien. Die jeweilige Beweglichkeit von Armen, Beinen und Wirbelsäule hänge somit nicht unmittelbar nur vom Alter, sondern vor allem von der individuellen Lebensführung ab. Daher sei es insofern kaum möglich, einen vom Lebensalter abweichenden Zustand zu ermitteln.

Da die Verfassungsgemäßheit des Behindertenbegriffs vorliegend jedoch nicht entscheidungserheblich war, wandte sich das LSG Bayern nicht an das Bundesverfassungsgericht. Und so stellt § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX auch heute noch auf altersuntypische, dem Lebensalter vorgreifende Gesundheitsstörungen ab…

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