Erwerbsminderungsrente: Rentenkürzung bei Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr durch Staffelung des Zugangsfaktors ist nicht verfassungswidrig

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Nach § 43 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) hat einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente, wer teilweise oder ganz erwerbsgemindert ist, während der letzten fünf Jahre wenigstens drei Jahre Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung entrichtet und die allgemeine Wartezeit erfüllt hat.

Abhängigkeit der Rentenhöhe vom Zugangsfaktor

Die Höhe der Erwerbsminderungsrente wird mithilfe der sog. Rentenformel ermittelt. Ein Bestandteil dieser Formel ist der sog. Zugangsfaktor, der mit den von dem Versicherten erworbenen Entgeltpunkten multipliziert wird.

Bis Ende 2000 betrug dieser Zugangsfaktor einheitlich 1,0. Seit dem 01.01.2001 wird er bei „vorzeitigem” Rentenbeginn jedoch nach Maßgabe von § 77 II 1 Nr. 3 SGB VI in seiner jeweils geltenden Fassung gekürzt:

  • Für jeden Monat, in dem eine Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres ausgezahlt wird, verringert sich der Zugangsfaktor um jeweils 0,003. Mittlerweile erfolgt die Kürzung nach einer weiteren Gesetzesänderung bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres.
  • Bei dieser Kürzung wird fiktiv davon ausgegangen, dass der Rentenberechtigte mindestens das 60. Lebensjahr (heute: 62. Lebensjahr) vollendet hat. Das bedeutet, dass auch derjenige, der bei Rentenantritt noch nicht 60 bzw. 62 Jahre alt ist, „nur” eine Kürzung um 36 (Monate) x 0,003 = 0,108 fürchten muss, egal, wie alt er oder sie tatsächlich ist.

Die Erwerbsminderungsrente wird daher um maximal 10,8% gekürzt, sollte der Rentenberechtigte noch nicht das 63. bzw. 65. Lebensjahr vollendet haben.

Sobald das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben wird, ist mit weiteren Anpassungen zu rechnen.

Staffelung des Zugangsfaktors ist verfassungskonform

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2011 (Az.: 1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) ist die durch § 77 II 1 Nr. 3 SGB VI herbeigeführte Kürzung der Erwerbsminderungsrente nicht verfassungswidrig.

Dabei weist das Gericht zunächst darauf hin, dass ein Ausgleich bereits dadurch geschaffen wurde, dass seit dem 01.01.2001 die Zurechnungszeit für Versicherte mit Abschluss des 55. Lebensjahres vollständig und nicht mehr wie bislang nur zu einem Drittel anerkannt wird. Mit Zurechnungszeit bezeichnet man gemäß § 59 I SGB VI den Abschnitt, der bei der Erwerbsminderungsrente dazugerechnet wird, wenn der Betroffene noch nicht das 60. Lebensjahr vollendet hatte. Im Ergebnis führt die umfassende Anerkennung dieser Phase jedenfalls zu einer Mehrung der Entgeltpunkte, die die Rentenkürzung teilweise kompensiert.

Ferner wurden Übergangsregeln geschaffen, sodass eine Kürzung in dem oben genannten Umfang erst für Erwerbsminderungsrenten gilt, die seit dem 01.12.2003 bezogen werden.

Mit diesen Feststellungen allein gibt sich das Bundesverfassungsgericht freilich noch nicht zufrieden.

Rentenkürzung verletzt nicht die Eigentumsgarantie (Art. 14 I GG)

Zunächst prüft das Gericht, ob eine Kürzung der Erwerbsminderungsrente durch Staffelung des Zugangsfaktors gegen die verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentumsgarantie (Art. 14 I GG) verstößt.

Es stellt fest, dass § 77 II 1 Nr. 3 SGB VI zwar in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit eingreift, weil diese Vorschrift für bereits erworbene Rentenanwartschaften den Zugangsfaktor herabsetzt. Damit werden Inhalt und Schranken dieser Eigentumsposition bestimmt.

Dennoch sei dieser Grundrechtseingriff nicht verfassungswidrig, da er mit dem Zweck der Gesetzesänderung gerechtfertigt werden könne. Dieser besteht darin, die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung insgesamt zu verbessern oder wenigstens zu erhalten, was wiederum im Interesse der gesamten Solidargemeinschaft liegt. Hierzu sei es erforderlich, die Rentenberechnung den jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Zugleich wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Versicherte eine (volle) Erwerbsminderungsrente anstelle einer Altersrente beantragen, seitdem letztere ebenfalls im Falle eines „vorzeitigen” Bezuges in Form von Rentenabschlägen gekürzt wird.

Zudem sei es immer noch günstiger, eine gekürzte Erwerbsminderungsrente anstelle einer gekürzten vorzeitigen Altersrente zu erhalten, sodass die Staffelung des Zugangsfaktors für Betroffene keine „übermäßige” Belastung darstelle.

Da der Gesetzgeber Übergangsregelungen geschaffen hatte, war Art. 14 I GG schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (hier auf Erhalt einer ungekürzten Erwerbsminderungsrente) verletzt.

Kürzung der Erwerbsminderungsrente enthält keine gleichheitswidrige Benachteiligung (Art. 3 I GG)

Ferner stellte das Bundesverfassungsgericht Überlegungen dazu an, ob die Kürzung des Zugangsfaktors nicht deshalb verfassungswidrig sei, weil sie Versicherte, die eine Erwerbsminderungsrente erhalten, gegenüber solchen Personen benachteiligt, die eine Altersrente beziehen. Nach Art. 3 I GG ist es dem Staat nämlich verboten, wesentlich Gleiches ungleich bzw. wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln.

So könnte man argumentieren, eine Kürzung beider Rentenarten, sei es durch Abschläge oder einen gestaffelten Zugangsfaktor, sei deshalb gleichheitswidrig, weil nur die Erwerbsminderungsrente eine „schicksalhafte Entwicklung des Gesundheitszustandes” voraussetzt (= Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte).

Dem folgt das Gericht jedoch nicht. Es verkennt zwar nicht die unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen der Rentenansprüche, betont aber erneut, dass Bezieher einer vorzeitigen Altersrente mit erheblich höheren Abschlägen leben müssen. Auch habe nur bei der Erwerbsminderungsrente eine Erhöhung der Zurechnungszeiten stattgefunden, die die durch § 77 II 1 Nr. 3 SGB VI erfolgende Rentenkürzung anteilig auffängt. Deshalb fehle eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 I GG.

Keine Benachteiligung behinderter Personen (Art. 3 III 2 GG)

Zuletzt prüft das Bundesverfassungsgericht noch, ob die Kürzung des Zugangsfaktors zu einer durch Art. 3 III 2 GG verbotenen Benachteiligung Behinderter führt, weil diese ggf. rechtlich genauso behandelt werden wie nichtbehinderte Altersrentner.

Zwar berücksichtigt das Gericht, dass beide Gruppen – nichtbehinderte vorzeitige Altersrentner und behinderte vorzeitige Erwerbsminderungsrentner – Abschläge hinsichtlich der Rentenhöhe hinnehmen müssen. Darin sieht es jedoch keine verfassungswidrige Benachteiligung im Sinne von Art. 3 III 2 GG.

Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass sich der verfassungsrechtliche Behindertenbegriff auf die Fähigkeit zur „Teilnahme am gesellschaftlichen Leben” bezieht, während das Rentenrecht für die Frage der Behinderung allein darauf abstellt, ob jemand am Arbeitsmarkt eine Beschäftigung finden und ausüben kann. Eine vorübergehende Erkrankung könne z.B. eine Erwerbsminderungsrente begründen, stelle aber keine Behinderung im Sinne der Verfassung dar. Nicht jeder Bezieher einer Erwerbsminderungsrente kann sich daher auch auf Art. 3 III 2 GG berufen.

Aber selbst wenn die Kürzung des Zugangsfaktors einen Behinderten im Sinne des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbotes betreffe, sei diese Regelung noch gerechtfertigt, weil sie für Betroffene immer noch günstiger ist als die Regeln, die für sonstige Erwerbslosigkeiten gelten.

Die Ausgangsfälle

In beiden Verfassungsbeschwerden ging es um die Kürzung des Zugangsfaktors bei einer teilweisen bzw. vollen Erwerbsminderungsrente.

Das erste Verfahren betraf einen 1954 geborenen Mann (Beschwerdeführer), der seit dem Jahr 2005 eine Erwerbsminderungsrente bezieht. Mit seinen 51 Jahren wurde ihm der Rentenzugangsfaktor daher nach § 77 II 1 Nr. 3 SGB VI konsequent um volle 0,108 gekürzt. Infolge der günstigeren Regelung zur Erfassung der Zurechnungszeit war seine Rente im Endeffekt um etwa 3,18% (= 15,- € pro Monat) geringer als nach altem Recht ohne Kürzung des Zugangsfaktors.

Im zweiten Verfahren ging es um eine bei Renteneintritt im Jahre 2002 57 Jahre alte Frau (Beschwerdeführerin), deren Erwerbsminderungsrente nach Maßgabe der Neuregelung des SGB VI und Beachtung der Übergangsregeln sogar um insgesamt 3,88% (= ca. 16,- €/Monat) gekürzt wurde.

Die gegen diese Rentenkürzungen eingelegten Klagen der Beschwerdeführer blieben in allen sozialgerichtlichen Instanzen bis hin zum Bundessozialgericht ohne Erfolg. Daher legten sie nun Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie und des Gleichheitssatzes sowie des in diesem enthaltenen Benachteiligungsverbotes ein.

Das Bundesverfassungsgericht gelangte jedoch zu der Auffassung, dass die Kürzung des Zugangsfaktors gemessen an der Eigentumsfreiheit des Art. 14 I GG keine „übermäßige” Belastung sei. Zwar bestand bei den Beschwerdeführern einerseits nicht die Gefahr, dass sie einer gekürzten Altersrente durch Beantragung einer Erwerbsminderungsrente entgehen könnten, da sie altersbedingt ohnehin noch keine Altersrente hätten beantragen können. Andererseits seien sie u.a. aber durch die Möglichkeit, eine Erwerbsminderungsrente bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze für die Altersrente zu beziehen, begünstigt. Daher stünden sie sich im Ergebnis immer noch besser, als wenn sie eine vorzeitige Altersrente mit den entsprechenden Abschlägen erhielten.

Da es eine Verletzung von Art. 3 I bzw. Art. 3 III 2 GG ebenfalls ablehnte (s.o.), scheiterten die Beschwerdeführer daher auch vor dem Bundesverfassungsgericht.

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