Wer seine Arme und/oder Hände nicht in vollem Umfang einsetzen kann, um alltägliche Aufgaben zu erledigen, muss ein hohes Maß an Kreativität und Durchhaltewillen entwickeln, um individuelle Lösungsmuster zu finden. Leider führt das Ausweichen auf andere Körperteile wie Füße oder Zähne jedoch ggf. zu deren vorzeitigem Verschleiß und somit zu weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Das Sozialgericht Aachen hatte jetzt darüber zu entscheiden, ob ein Contergan-Geschädigter einen Anspruch auf Kostenübernahme für Zahnimplantate gegen seine gesetzliche Krankenversicherung hat (Urteil vom 01.02.2011, Az.: S 13 KR235/10).
Gesetzliche Krankenkassen zahlen grundsätzlich nicht für Zahnimplantate
Das SG Aachen weist in seiner Entscheidung darauf hin, dass die gesetzliche Krankversicherung normalerweise keine „implantologischen Leistungen” bezahlt. Eine Ausnahme gelte nur unter bestimmten Voraussetzungen, die in der Behandlungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) aufgelistet seien (sog. Ausnahmeindikationen).
Aber auch eine der dort genannten Ausnahmeindikationen genügt für sich allein genommen noch nicht, um einen Kostenübernahmeanspruch zu begründen. Zusätzlich müsse die Insertion von Zahnimplantaten aus zahnmedizinischer Sicht die einzig in Frage kommende Behandlungsmöglichkeit sein. Kann also stattdessen auf „klassische” Zahnprothesen o.Ä. ausgewichen werden, scheidet ein Kostenanspruch trotz der Ausnahmeindikation aus.
Der Ausgangsfall
Geklagt hatte ein Contergan-Opfer, dessen Greiffunktionen seiner Hände erheblich beeinträchtigt sind. Er behilft sich im Alltag deswegen, indem er stattdessen auf seine Zähne ausweicht, um z.B. Flaschen zu öffnen.
Dadurch kam es bei dem Kläger zu Zahnschäden, weswegen er entweder ein Gebiss oder Zahnimplantate brauchte. Auf Grund seiner conterganbedingten Einschränkungen ist er jedoch nicht in der Lage, einen herkömmlichen Zahnersatz einzusetzen und z.B. zum Reinigen wieder herauszunehmen. Deshalb beantragte er Kostenübernahme für Zahnimplantate, leider jedoch ohne Erfolg…
Keine Ausnahme für Contergan-Geschädigte
Das SG Aachen nimmt zwar zu Kenntnis, dass Menschen, die infolge einer Behinderung ihre Hände nur eingeschränkt oder gar nicht benutzen können, verstärkt auf ihre Zähne ausweichen (müssen). Die Conterganschädigung habe daher in erheblichem Maße zu der Behandlungsbedürftigkeit des Klägers beigetragen.
Dennoch könne der Kläger von seiner gesetzlichen Krankenversicherung keine Kostenübernahme verlangen. Obwohl er nicht in der Lage sei, selbstständig ein Gebiss zu verwenden, sei kostenrechtlich allein von Interesse, ob Zahnimplantate aus zahnmedizinischer Sicht die einzig mögliche Behandlungsart seien. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall.
Das Gericht verweist den Kläger deshalb an den Staat. Dieser habe an Stelle der gesetzlichen Krankenversicherung für die besonderen Bedürfnisse Contergan-Geschädigter Sorge zu tragen. Denkbar sei insoweit, den Leistungskatalog der „Conterganstiftung für behinderte Menschen” auszuweiten, weil die Zahnschäden des Klägers letztlich ein Folgeschaden der Conterganschädigung seien. Auch eine steuerfinanzierte Lösung hält das Gericht für möglich.
Nur ist dem Kläger damit leider noch lange nicht geholfen… Es verwundert deshalb nicht, dass er gegen dieses Urteil Berufung zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt hat.