Schlagwortarchiv für: Sozialauswahl

Genießt ein Arbeitnehmer Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG), so kann ihm grundsätzlich nur dann wirksam gekündigt werden, wenn ein besonderer Kündigungsgrund vorliegt und die Kündigung sozial gerechtfertigt ist (§ 1 II KSchG).

Im Fall der betriebsbedingten Kündigung, bei der ein „dringendes betriebliches Erfordernis” zu der Kündigung geführt hat, muss der Arbeitgeber noch dazu die Vorgaben aus § 1 III KSchG einhalten und die zu kündigenden Arbeitnehmer nach den dort genannten Kriterien auswählen.

Die vier Kriterien der Sozialauswahl

Zu diesen bei der Sozialauswahl zu berücksichtigenden Kriterien zählen nach § 1 III 1 KSchG

 die Dauer der Betriebszugehörigkeit,

 das Lebensalter,

 ggf. bestehende Unterhaltspflichten und

 eine etwaige Schwerbehinderung der einzelnen Arbeitnehmer.

Diese vier Aspekte muss der Arbeitgeber „ausreichend” berücksichtigen, ohne dass damit bereits etwas darüber gesagt worden wäre, ob eines oder mehrere dieser Merkmale vorrangig ist bzw. sind. Und so geht auch das Landesarbeitsgericht Köln in einem Urteil vom 18.02.2011 (Az.: 4 Sa 1122/10) im Ausgangspunkt davon aus, dass alle vier Kriterien des § 1 III 1 KSchG „prinzipiell gleichrangig sind” und dass keinem von ihnen ein „absoluter Vorrang” zustehe. Bei diesen Überlegungen bleibt das Gericht jedoch keineswegs stehen!

Grundsatz: Alle Auswahlkriterien sind gleichrangig

Zwar stellt das Gericht unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zunächst noch fest, es sei Sache des Arbeitgebers, ob er im Rahmen seines Wertungsspielraumes z.B. einmal vorrangig auf die Betriebszugehörigkeit und ein anderes Mal vor allem auf das Lebensalter der Betroffenen abstellt. Entscheidend sei nur, dass er die vier genannten Auswahlkriterien überhaupt „ausreichend” berücksichtigt hat, so wie es der Gesetzeswortlaut von § 1 III 1 KSchG will.

Dennoch sei nicht „praktisch jede Auswahlentscheidung akzeptabel”. Denn das Gebot der sozialen Auswahl konkretisiere das in der Verfassung verbürgte Sozialstaatsgebot und sei damit eine zwingend zu beachtende Schutzvorschrift. Deshalb muss die Wertungsentscheidung des Arbeitgebers auch tatsächlich sozialverträglich sein.

Lebensalter kann im Einzelfall wichtiger sein als Unterhaltsverpflichtungen

Sodann kommt das LAG Köln aber zu dem Ergebnis, es könne inakzeptabel sein, wenn der Arbeitgeber den Unterhaltspflichten des einen Arbeitnehmers den Vorrang gegenüber dem Lebensalter des anderen Arbeitnehmers einräume und daher einem kinderlosen älteren Arbeitnehmer kündigt.

Diese Überlegung begründet es zunächst mit der Rechtsprechung des BAG, nach der die Berücksichtigung des Lebensalters bei der sozialen Rechtfertigung gemäß § 1 III 1 KSchG nur deshalb keine unzulässige Altersdiskriminierung darstelle, weil dieses Vorgehen zwingend erforderlich sei, um die individuellen Chancen der Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt zu ermitteln. Denn schließlich gehe es darum, denjenigen Arbeitnehmer aus betrieblichen Gründen zu entlassen, der die besten Möglichkeiten hat, eine andere Stelle zu finden. Und es ist wohl leider unbestritten, dass diese Chancen mit zunehmendem Alter rapide abnehmen.

Daher spiele das Lebensalter der Arbeitnehmer eine nicht unerhebliche Rolle. Das zeige zudem § 14 III TzBfG, der eine Befristung eines Arbeitsverhältnisses ohne Angabe besonderer Gründe erlaubt, sofern der einzustellende Bewerber bereits das 52. Lebensjahr vollendet hat. Auch hierdurch soll der Betroffene nicht schlechter gestellt werden, sondern der Gesetzgeber möchte erreichen, dass er überhaupt eine Chance bekommt.

Aus diesen Gründen hielt es die im Ausgangsfall ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung gemäß § 1 III KSchG für rechtsunwirksam, weil der Arbeitgeber das Lebensalter des gekündigten Arbeitnehmers nicht hinreichend berücksichtigt habe.

Der Ausgangsfall

Ein Arbeitgeber (Beklagter) hatte zwei Produktionsbereiche, nämlich „Werkstatt” und „Montage”, zusammengelegt. Für diese unternehmerische Entscheidung wurde ein durch die Wirtschaftskrise bedingter Auftragsrückgang angeführt, der zwischen den Prozessparteien jedoch streitig ist.

Jedenfalls wollte der Beklagte nur einen der beiden Abteilungsleiter behalten. Zur Wahl standen einerseits der Kläger und andererseits ein Herr K.

Der Kläger ist gelernter Metallbauhandwerksmeister und war Leiter der Organisationseinheit „Werkstatt”. Er ist verheiratet, aber nicht unterhaltsverpflichtet. Im Kündigungszeitpunkt im November 2009 war er 53 Jahre alt. Herr K, der bisherige Leiter der Organisationseinheit „Montage”, war damals hingegen 35 Jahre alt, ist ebenfalls verheiratet und hat zwei unterhaltsberechtigte Kinder. Er hatte im Ausland einen Beruf erlernt, der mit dem deutschen Elektromechaniker vergleichbar ist. Sein Abschluss wurde „‚von einer deutschen Industrie- und Handelskammer offiziell anerkannt und zertifiziert'”. Keiner der beiden ist schwerbehindert und auch ihre Betriebszugehörigkeit weicht nur um sechs Monate zugunsten von Herrn K ab.

Wegen dessen Unterhaltsverpflichtung hatte sich der Beklagte letztlich gegen den Kläger entschieden und ihm Ende 2009 zum 31.05.2010 gekündigt. Dieser erhob Kündigungsschutzklage und obsiegte damit vor dem LAG Köln.

Zugunsten des Klägers führt das LAG Köln an:

„Das Lebensalter des Klägers liegt mit 53 Jahren im Zeitpunkt der Kündigung im schlechtestmöglichen Bereich, was die Chancen am Arbeitsmarkt und die Perspektiven anbelangt, das Arbeitsleben bis zum Rentenalter fortzusetzen. (…) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Kläger angesichts einer für ihn geltenden regelmäßigen Altersgrenze von rund 66 Jahren mit 53 Jahren noch ca. 13 Jahre bis zum Erreichen der Altersgrenze zurückzulegen hat. Ein Arbeitnehmer im Alter des Klägers ist damit bei typisierender Betrachtung von einer Kündigung schwerstmöglich betroffen.”

Dagegen äußerst es sich sehr optimistisch zu den Chancen des Herrn K, einen anderen Arbeitsplatz zu finden:

„Das Alter (des) Herrn K ist mit 35 Jahren jedenfalls unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen geradezu optimal, was die Chancen auf dem Arbeitsmarkt anbelangen. (…) Ein 35jähriger hat typischerweise seine Berufsausbildung abgeschlossen und bereits einige Jahre Berufspraxis hinter sich, was ihn einen besonders gefragten Teilnehmer am Arbeitsmarkt werden lässt. Ein 35jähriger zeigt typischerweise auch noch keine altersbedingten Abnutzungserscheinungen; mit häufigen und längeren Erkrankungen ist bei ihm nicht zu rechnen. Herr K hat damit wegen seines Alters besonders gute, wenn nicht überhaupt die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt.” Dies gelte umso mehr, als er schon in jungen Jahren eine Führungsposition erlangt hat und ein neuer Arbeitgeber von seiner Erfahrenheit profitiere und diese zu honorieren wisse.

Das Gericht schließt seinen Vergleich daher mit der Feststellung:

„Vor diesem Hintergrund müssen die Unterhaltspflichten Herrn K zurücktreten.” Es sei nämlich davon auszugehen, dass er sofort eine neue Anstellung gefunden hätte, sodass er nicht in die Verlegenheit gelangt wäre, seine Unterhaltsverpflichtungen nicht mehr erfüllen zu können.

Folglich war die Kündigung des Klägers rechtsunwirksam. Gegen das Urteil kann allerdings Revision eingelegt werden, weil grundsätzlicher Klärungsbedarf darüber bestehe, in welchem Verhältnis die vier Auswahlkriterien des § 1 III 1 KSchG tatsächlich zueinander stehen.

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Bedeutung:

Im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes ist eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nur dann sozial gerechtfertigt, wenn sie durch einen Grund, der in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegt oder durch ein dringendes betriebliches Erfordernis begründet ist.

Die betriebsbedingte Kündigung erfolgt grundsätzlich als ordentliche Kündigung.

Begriff:

Die betriebsbedingte Kündigung setzt voraus, dass eine unternehmerische Entscheidung zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt, sodass die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers aus dringenden betrieblichen Gründen nicht mehr möglich ist. Auch die Zuweisung einer neuen Tätigkeit oder die Durchführung von Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen muss unmöglich geworden sein, § 1 Abs. 2 Satz 2 und 3 KSchG.

Dringendes betriebliches Erfordernis:

Dies sind alle tatsächlichen Entwicklungen, die letztlich dazu führen, dass es im Betrieb zu viele Arbeitskräfte gibt. Sie können auf externen oder internen Gründen beruhen. In Frage kommen z.B. ein Rückgang an Aufträgen oder Umstrukturierungen des Unternehmens.

Auf Grund der sich ändernden Verhältnisse muss der Arbeitgeber eine unternehmerische Entscheidung treffen, die zum Arbeitskräfteüberhang führt. Entscheidet sich der Unternehmensträger z.B. für die Stilllegung eines Betriebs(teils), bedarf er insgesamt weniger Arbeitskräfte. Diese innerbetriebliche Umstrukturierung muss ursächlich für den Stellenabbau und somit auch für die betriebsbedingte Kündigung sein.

Soziale Rechtfertigung:

Die betriebsgedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt, wenn ein dringendes betriebliches Erfordernis (s.o.) vorliegt, sodass die Weiterbeschäftigung des oder der Arbeitnehmer in dem Betrieb nicht mehr möglich ist, § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

Sozialwidrig ist eine Kündigung daher, wenn die Weiterbeschäftigung an anderer Stelle im Unternehmen zumutbar ist, weil dann kein realer Überhang von Arbeitskräften vorliegt, oder wenn der Unternehmensträger auf andere Art und Weise als durch betriebsbedingte Kündigung auf das dringende betriebliche Erfordernis reagieren könnte.

Die betriebsbedingte Kündigung ist des Weiteren sozialwidrig, wenn keine (ausreichende) Sozialauswahl nach den Kriterien:

– Betriebszugehörigkeit (inkl. Erziehungszeiten), – Lebensalter,

– etwaige Unterhaltspflichten, – etwaige Schwerbehinderteneigenschaft

durchgeführt wurde, § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG.

Der Arbeitnehmer kann verlangen, die Gründe der Sozialauswahl zu erfahren, § 1 Abs. 3 Satz 1, Halbsatz 2 KSchG.

Ausnahmsweise kann die Abwägung der Interessen von Arbeitnehmer und -geber zur Sozialwidrigkeit der Kündigung führen.

Sollten Zweifel an der sozialen Rechtmäßigkeit einer Kündigung bestehen, sollte unmittelbar anwaltlicher Rat eingeholt werden. Dies gilt insbesondere für die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der ausgesprochenen Kündigung.

Durchführung der Sozialwahl:

Die Sozialauswahl muss die Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG (s.o.) beachten. Zu kündigen ist dem Arbeitnehmer, der am „sozialstärksten“ ist und der auf seinen Arbeitsplatz daher am ehesten verzichten kann.

Vergleichsmaßstab sind alle Arbeitnehmer des betroffenen Betriebs. Es sind solche Arbeitnehmer nicht zu berücksichtigen, auf die der Unternehmer wegen ihrer fachlichen Kenntnis, Fähigkeiten und Leistungen nicht verzichten kann, § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG, oder die aus besonderen Gründen unkündbar sind.

Der Arbeitgeber darf sich zur Durchführung der Sozialwahl eines Punktsystems bedienen, sofern dieses die relevanten Kriterien (s.o.) ausreichend berücksichtigt. Das Punktsystem ist eine mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie im Sinne des § 95 Abs. 1 BetrVG. Wird das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt, kann dieser verlangen, dass das Punktesystem nicht weiter angewandt wird. Solange dieser Unterlassungsanspruch nicht durchgesetzt wird, ist der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des BAG dennoch nicht daran gehindert, das Punktesystem zu nutzen. Etwaig erfolgende Kündigungen auf Grundlage dieses Systems sind daher nicht wegen Verletzung des § 95 BetrVG unwirksam.

[box type=”alert”]Achtung! Wegen eines Fehlers bei der Sozialauswahl können nur solche Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erheben, die ohne den Fehler ihren Arbeitsplatz behalten hätten. Wer also auch bei rechtmäßiger Sozialauswahl eine Kündigung erhalten hätte, kann nicht erfolgreich klagen.[/box]

Arbeitsgerichtliche Kontrolle:

Die Voraussetzungen der betriebsbedingten Kündigung sind arbeitsgerichtlich voll überprüfbar mit Ausnahme der unternehmerischen Entscheidung, die hinter der Kündigung steht. Diese kann nur auf Willkür überprüft werden, während der eigentliche Entscheidungsinhalt allein Sache des Unternehmensträgers ist. Beschränkt kontrollierbar sind ferner die das dringende betriebliche Erfordernis ggf. begründenden innerbetrieblichen Umstände.

Den Beweis für die Existenz eines dringenden betrieblichen Grundes muss der Arbeitgeber erbringen, § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG. Der betroffene Arbeitnehmer muss andererseits beweisen, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt sei, § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG.

Kündigung wegen Betriebsänderung, § 1 Abs. 5 KSchG:

Folgt eine Kündigung einer Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG, und bezeichnet ein zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat getroffener Interessenausgleich die zu entlassenden Arbeitnehmer namentlich, so wird vermutet, dass die Kündigung betriebsbedingt und sozial rechtmäßig ist. Die Sozialauswahl ist dann nur beschränkt überprüfbar und der Interessenausgleich ersetzt die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG grundsätzlich erforderliche Stellungnahme des Betriebsrats.

Die Vermutungsregel entfällt gemäß § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG, sofern eine nicht unerhebliche Änderung der Sachlage nach Abschluss des Interessensausgleichs eingetreten ist.

Abfindungsanspruch:

Die Durchführung der betriebsbedingten Kündigung kann der Arbeitgeber dadurch beschleunigen, indem er den Betroffenen per Kündigungserklärung eine Abfindung für den Fall in Aussicht stellt, dass er keine Kündigungsschutzklage erhebt, § 1a KSchG. Lässt der Arbeitnehmer daraufhin die Klagefrist verstreichen, erwächst ihm gemäß § 1a Abs. 2 KSchG ein Abfindungsanspruch in Höhe von ½ Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr.

Anspruch auf Wiedereinstellung:

Wenn bei Zugang der Kündigungserklärung tatsächlich keine dringenden betrieblichen Erfordernisse gegeben waren, so bleibt die Kündigung dennoch wirksam. Der betroffene Arbeitnehmer kann aber verlangen, dass er wiedereingestellt wird, falls seine Weiterbeschäftigung noch vor Ablauf der Kündigungsfrist möglich wird.

Dieser Wiedereinstellungsanspruch ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG aus einer vertraglichen Nebenpflicht des Arbeitgebers.