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Wie bereits kürzlich an dieser Stelle berichtet, setzt die Gewährung einer Verletztenrente gemäß § 56 I des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) voraus, dass die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge eines Versicherungsfalles mindestens 26 Wochen nach dessen Eintritt weiterhin um wenigstens 20% reduziert ist.
Das bedeutet zum einen, dass der Versicherte zunächst einen Arbeitsunfall erlitten haben oder an einer Berufskrankheit erkrankt sein muss (hierzu s. §§ 8, 9 SGB VII). Zum anderen muss aber auch bewiesen werden, dass die Erwerbsfähigkeitsminderung auf diesen Ereignissen beruht (Kausalität). Nach einem Arbeitsunfall müssen daher die folgenden Kausalitätszusammenhänge nachgewiesen werden:

(1) Die im Unfallzeitpunkt ausgeübte Verrichtung muss der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sein (sog. sachlicher Zusammenhang).
(2) Diese Verrichtung muss ferner zu dem Arbeitsunfall geführt haben (sog. Unfallkausalität).
(3) Der Arbeitsunfall muss einen Gesundheits(erst)schaden oder gar den Tod des Versicherten verursacht haben (sog. haftungsbegründende Kausalität).
(4) Der bei dem Unfall erlittene Gesundheitsschaden muss unmittelbar oder wenigstens mittelbar zu länger anhaltenden Unfallfolgen geführt haben (sog. haftungsausfüllende Kausalität).
Dass der Nachweis all dieser Ursachenzusammenhänge unter Umständen nicht einfach ist, dürfte auf der Hand liegen. Und so wirft das Bundessozialgericht selbst den Sozial- und Landessozialgerichten auf diesem Feld immer mal wieder ungenaues Arbeiten vor.
So geschehen in einem Urteil des BSG vom 09.05.2006 (Az.: B 2 U 26/04 R). In dem zu entscheidenden Fall ging es um einen 1954 geborenen Straßenbahnfahrer (Kläger), der im September 1993 ein Gleispflegefahrzeug fuhr und dabei auf eingleisiger, unübersichtlicher Strecke mit einem entgegen kommenden Straßenbahnwagen kollidierte. Es kam zu mehreren leicht Verletzten, die beiden Fahrer wurden dagegen schwer verletzt. Der Kläger, der bei dem Unfall eingeklemmt worden war, erlitt eine Rippenfraktur, sowie Quetschungen und Prellungen im linken Vorfuß und der rechten Brustseite. Ende Oktober 1993 konnte er zwar bereits wieder zum Dienst antreten, ab dem 09.11.1993 wurde der Kläger jedoch bis zum 25.04.1994 wegen Kopfschmerzen, Erbrechen und Ohnmachtsanfällen nochmals krankgeschrieben. Infolge einer weiteren Bewusstlosigkeit im Dienst wurde er am 04.05.1994 erneut als fahruntauglich eingestuft. Nach mehreren auch stationären Behandlungsmaßnahmen wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers zwischenzeitlich beendet.
Seinen Antrag auf Erhalt einer Verletztenrente lehnte die zuständige Berufsgenossenschaft (Beklagte) ab. Da er angab, bei dem Unfall im September 1993 auch eine Kopfverletzung erlitten zu haben, hatten zwar zwei Gutachter eine Erwerbsfähigkeitsminderung von 40% attestiert (u.a. wegen eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule, einem Schmerzsyndrom bzw. einem psychovegetativen Allgemeinsyndrom), was jedoch zwei weitere Gutachter ablehnten, da schon das Vorliegen dieser Kopfverletzung fraglich sei. Im Verfahren vor dem Sozialgericht Leipzig bewertete ein weiterer Gutachter die Erwerbsunfähigkeit des Klägers wiederum mit 30%, da bei diesem Unfall dessen Herzmuskel geprellt worden sei und er daher an Herzrhythmusstörungen und Ohnmachtsanfällen leide. Hinzu kämen ein Schädel-Hirn-Trauma mit Persönlichkeitsveränderung und eine chronische Anpassungsstörung, da sich der Kläger „unverstanden“ fühle. Das SG verurteilte die Beklagte schließlich zu einer Verletztenrente wegen einer Erwerbsfähigkeitsminderung in Höhe von 25%. Im Berufungsverfahren vor dem Sächsischen Landessozialgericht verneinte ein anderer Gutachter hingegen den Ursachenzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall des Klägers und den genannten Gesundheitsstörungen. Auch das LSG Sachsen folgte nicht den im Ausgangsverfahren eingeholten Gutachten, wies die Berufung aber dennoch zurück, da es eine Somatisierungsstörung mit ängstlich depressiver Störung annahm. Vor dem Unfall sei der Kläger physisch als auch psychisch beschwerdefrei gewesen, weswegen das Gericht letztlich annahm, dass dieser Vorfall zu den Gesundheitsschäden des Klägers geführt haben müsse.
Die Revision zum BSG führte hingegen zur Aufhebung des Urteils des LSG Sachsen und der Rückverweisung der Sache an dieses. Das BSG vermochte nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen nämlich nicht zu entscheiden, ob die oben angeführten Kausalitätsbeziehungen vorlagen und einen Anspruch des Klägers auf die Zahlung einer Verletztenrente begründeten.
Seine Zweifel betrafen v.a. die Frage, ob die erlittenen Unfallschäden zu einer Erwerbsminderung geführt hatten. Dies sei maßgeblich mit Hilfe der sog. Theorie der wesentlichen Bedingung zu beantworten, nach der jedes Ereignis ursächlich ist, das einerseits nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der eingetretene Erfolg entfiele (sog. conditio sine qua non), und welches andererseits zu dem Erfolgseintritt „wesentlich“ beigetragen hatte. Die Wesentlichkeit muss dabei aus einer besonderen Beziehung einer Ursache für den Erfolgseintritt nach Maßgabe der „Auffassung des praktischen Lebens“ ermittelt werden.
Dabei können auch mehrere Ursachen für einen Erfolgseintritt wesentlich sein. Rechtlich irrelevant wird eine von mehreren Ursachen erst dann, wenn sie in ihrer Bedeutung für den Erfolgseintritt weit hinter der oder den („überragenden“) konkurrierenden Ursachen zurückbleibt. Die weniger bedeutsame Ursache kann dann nur noch als Gelegenheitsursache oder Auslöser anerkannt werden. Ähnliches gilt, wenn eine externe Ursache als Auslöser mit einer krankhaften Vorveranlagung des Versicherten konkurriert; entscheidend ist hier, ob die Veranlagung so stark ist, dass sie durch jedes andere alltägliche Ereignis zur gleichen Zeit ebenfalls ausgelöst worden wäre.
Zudem weist das BSG erneut darauf hin, dass es für die Feststellung der (hier: haftungsausfüllenden) Kausalität entscheidend sei, ob eine Ursache nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sei, den eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen. Erst in einem zweiten Schritt sei zu prüfen, ob die Ursächlichkeit auch im konkreten Fall anzunehmen sei.
All dies gilt nach dem Urteil auch dann, wenn ein Versicherter unter psychischen Unfallfolgen leidet. In diesem Fall fordert das Gericht für die Anerkennung einer psychischen Gesundheitsstörung als Unfallfolge eine hinreichend sichere Diagnose der eingetretenen Gesundheitsschäden nach Maßgabe eines (international) anerkannten Diagnosesystems wie „ICD-10“ oder „DSM-IV“. Bereits daran fehlte es vorliegend jedoch, da das LSG lediglich eine Somatisierungsstörung und eine ängstlich depressive Störung angenommen hatte, ohne sich darüber zu äußern, wie diese in Erscheinung trete. Insbesondere der Begriff der „ängstlich depressiven Störung“ sei zu ungenau, da derartige Störungen vorübergehend oder dauerhaft auftreten oder auch an einen bestimmten Auslöser geknüpft sein können.
Auch habe das LSG den Zusammenhang von Arbeitsunfall und Gesundheitsstörungen des Klägers nicht hinreichend belegt. Es fehlten z.B. Angaben darüber, auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es sich berufen möchte. Ferner sei es ohne hinreichende Begründung nicht dem hinzugezogenen Sachverständigen gefolgt. Vor allem aber bemängelte das BSG, dass sich das LSG Sachsen damit begnügt habe, den Arbeitsunfall als „conditio sine qua non“ (s.o.) für die gesundheitlichen Störungen des Klägers anzusehen, ohne sich mit dessen Wesentlichkeit auseinander zu setzen. Das bloße Fehlen von Alternativursachen genüge nämlich nicht, um die Wesentlichkeit eines Unfallereignisses für die Unfallfolgen zu begründen.

Wer an einer Berufskrankheit leidet oder einen Arbeitsunfall erlitten hat, kann unter den Voraussetzungen des § 56 I 1 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) eine Verletztenrente beantragen. Hierzu zählt neben dem Vorliegen eines Arbeitsunfalls (§ 8 SGB VII) oder einer Berufskrankheit (§ 9 SGB VII), dass die Erwerbsfähigkeit auch nach der 26. Woche nach Eintritt des Versicherungsfalles weiterhin um mindestens 20% reduziert ist. In der Praxis bereitet der Nachweis des Zusammenhanges von Versicherungsfall und Erwerbsfähigkeitsminderung jedoch immer wieder erhebliche Schwierigkeiten.

Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 09.05.2006 (Az.: B 2 U 1/05 R) kann z.B. der Zusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und einer seelischen Krankheit nur dann anerkannt werden, wenn der Unfall selbst oder die eingetretenen Unfallfolgen generell geeignet sind, diese Gesundheitsschädigung herbeizurufen. Zudem ist eine exakte Diagnose der psychischen Störung nach den – international anerkannten – Diagnosesystemen ICD-10 bzw. DSM IV erforderlich.
Folgendes war geschehen: Ein damals 34jähriger Kfz-Schlosser (Kläger) erlitt im August 1995 einen privaten Verkehrsunfall, der zu einer Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule mit der Folge wiederholter Arbeitsunfähigkeit führte (zuletzt noch im September/Oktober 1996). Schon ein Jahr später, im Oktober 1997, kam es zu einem Arbeitsunfall, bei dem der Kläger aus ca. 1,80 – 2 m Höhe von einem Gerüst fiel und auf dem Rücken landete. Neben einer Prellung seiner linken Schulter erlitt er erneut eine Verletzung der Halswirbelsäule. Der Direktor einer chirurgischen Klinik und Poliklinik einer Universitätsklinik riet ihm daraufhin zu einer Halswirbelsäulen-Operation, während der Leiter einer anderen Poliklinik für Neurochirurgie die Operation für überflüssig hielt. In Behandlung blieb der Kläger bei beiden Medizinern. Die zuständige Berufsgenossenschaft (Beklagte) veranlasste im März 1998 die umfassende Begutachtung des Gesundheitszustandes des Klägers, bei der weder orthopädisch noch neurologisch fortbestehende Unfallfolgen attestiert wurden. Allerdings diagnostizierte ein Gutachter eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine Anpassungsstörung, weshalb von der Beklagten ein stationäres Heilverfahren bewilligt wurde. Und wieder kam es zum medizinischen Fachstreit: Während im Entlassungsbericht eine psychische Erkrankung des Klägers festgehalten wurde, die nicht unfallbedingt sei, ging ein anderer Mediziner davon aus, dass der damalige Zustand des Klägers auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei. Die nun vom Kläger beantragte Verletztenrente wegen psychischer Unfallfolgen lehnte die Beklagte ab.
Im Verfahren vor dem Sozialgericht Leipzig stellte eine Gutachterin fest, dass der Kläger an einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) leide, die zwar nicht durch den Unfall selbst hervorgerufen worden sei, aber eine Folge der unklaren Behandlungssituation darstelle, die durch die unterschiedlichen Diagnosen der Ärzte entstanden sei. Dem widersprach zwar die Beklagte unter Vorlage einer gegenteiligen Stellungnahme eines anderen Mediziners, doch entschied das Sozialgericht dennoch zugunsten des Klägers.
Im Berufungsverfahren vor dem Sächsischen Landessozialgericht scheiterte die Beklagte erneut. Allerdings wurde die Erwerbsfähigkeitsminderung (MdE) des Klägers von 30 auf 20 herabgesetzt. Das LSG entschied im Übrigen, dass jede psychische Unfallfolge, die wesentlich auf einem Arbeitsunfall beruhe, zu entschädigen sei.
Die Revision zum Bundessozialgericht führte wiederum zur Aufhebung des Berufungsurteils und Rückverweisung an das LSG.
Zwar bestritt das BSG nicht, dass der Kläger 1997 einen Arbeitsunfall erlitten hatte: Das Klettern auf dem Gerüst stehe in einem sachlichen Zusammenhang zu seiner beruflichen Tätigkeit als Kfz-Schlosser und diese Verrichtung führte auch zu dem Sturz (sog. Unfallkausalität). Infolge dieses Unfalls kam es ferner zu einer Schädigung der Halswirbelsäule und der linken Schulter des Klägers, sodass das Gericht auch die sog. haftungsbegründende Kausalität bejahte.
Allerdings müsse der Versicherungsfall (hier: Arbeitsunfall) zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit führen (sog. haftungsausfüllende Kausalität), was zunächst eine Beeinträchtigung des körperlichen bzw. geistigen Leistungsvermögens des Versicherten voraussetze. Ferner müsse der Arbeitsunfall mit den jeweiligen Unfallfolgen verknüpft sein, und zwar unmittelbar oder zumindest mittelbar durch einen erlittenen Gesundheitserstschaden. Dieser Zusammenhang ist nach der sog. Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen.
Nach dieser Theorie ist zunächst einmal jedes Ereignis als Erfolgsursache anzusehen, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (sog. conditio sine qua non). Darüber hinaus sei zu fordern, dass die Ursache auch rechtlich erheblich sei, weil sie in einer „besonderen Beziehung zum Erfolg“ steht und diesen wesentlich herbeigeführt hat. Dabei komme es auf die praktische Lebenserfahrung an, ob eine Ursache als wesentlich und rechtserheblich oder unwesentlich und irrelevant zu bewerten ist.
Das BSG betont, dass es sozialrechtlich grundsätzlich auf die konkrete Ursächlichkeit eines Ereignisses im Einzelfall ankomme. Dennoch müsse der Ursachenzusammenhang von Arbeitsunfall und Unfallfolgen zunächst generell bestätigt sein. Grundlage der anzustellenden Kausalitätserwägungen sei der jeweils aktuelle Wissensstand der Medizin über den Zusammenhang von Krankheitsbildern und möglichen Ursachen. Erst wenn dieser generelle Ursachenzusammenhang nachgewiesen ist, gelte es, in einem zweiten Schritt die individuelle Kausalität von Versicherungsfall und Unfallfolgen anhand der besonderen Umstände des Einzelfalles nach Maßgabe der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen.
All diese Grundsätze gelten nach dem genannten BSG-Urteil auch für psychische Unfallfolgen: Hier sei zunächst festzustellen, ob der Betroffene konkrete Gesundheitsstörungen erlitten hat, die zu einer Erwerbsfähigkeitsminderung führen. Insofern fordert das BSG eine Diagnose gemäß der gängigen Diagnosesysteme ICD-10 bzw. DSM-IV, denn die genaue Bezeichnung der Gesundheitsstörung erleichtere die Ermittlung der für sie wesentlichen Ursachen. Schon auf dieser Ebene kritisierte es das Urteil des LSG Sachsen, da dieses einerseits von einer „somatoformen Schmerzstörung mit depressiver Fehlverarbeitung“ sprach, an anderer Stelle jedoch („nur“) von einer „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.4 ICD-10)“. Damit sei unklar, ob der Kläger an einer depressiven Fehlverarbeitung leide, was die Genauigkeit der gesamten Diagnose in Frage stelle.
Was den Ursachenzusammenhang von Versicherungsfall und psychischer Gesundheitsstörung betrifft, räumt das BSG ein, es sei „schwierig“ den aktuellen Stand der Medizin zu ermitteln, weshalb die Gerichte auf Sachverständigengutachten zur generellen und individuellen Ursächlichkeit angewiesen seien. Erforderlich sei die genaue Ermittlung der schädigenden Ursache, die zu der psychischen Störung führte. Vorliegend sei aber unklar, ob die psychische Beeinträchtigung des Klägers auf dem Sturz (Unfallereignis), der Verletzung der Halswirbelsäule und der linken Schulter (Gesundheitserstschaden), der späteren, unklaren Behandlungslage oder weiterhin bestehenden, unfallbedingten physischen Einschränkungen beruht. Daher könne nicht hinreichend geklärt werden, ob die sozialrechtlich geforderten Kausalzusammenhänge nach der Theorie der wesentlichen Bedingung tatsächlich vorliegen. Aus den Akten gehe nicht einmal hervor, inwiefern der Kläger durch die abweichenden Ärzteauffassungen tatsächlich verunsichert worden sei, geschweige denn, ob die somatoforme Schmerzstörung nur die Halswirbelsäule und/oder die linke Schulter oder sogar den gesamten Körper des Beklagten erfasse.