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Arbeitsbedingungen werden üblicherweise nicht nur (individuell) im Arbeitsvertrag vereinbart, sondern ergeben sich vielfach (auch) aus Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Dabei ist aber das gesetzlich vorgegebene Rangverhältnis dieser Regelwerke zu beachten.

Tarifvertrag „verdrängt” individuelle Abmachungen und Betriebsvereinbarungen

Im Verhältnis von Tarifvertrag und Arbeitsvertrag gilt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch individuelle Vereinbarung nur zugunsten des Arbeitnehmers von einem für sie verbindlichen Tarifvertrag abweichen dürfen. Das Tarifwerk verhindert also einerseits jede arbeitsvertragliche Benachteiligung eines einzelnen Arbeitnehmers, sofern der Vertrag sie nicht im Rahmen einer sog. Öffnungsklausel ausdrücklich zulässt. Andererseits kann er einer individuell vereinbarten Begünstigung des Arbeitnehmers grundsätzlich nicht entgegenstehen. Dieses Rangverhältnis von Tarif- und Einzelarbeitsvertrag nennt man Günstigkeitsprinzip, § 4 III Tarifvertragsgesetz (TVG).

Dieses Günstigkeitsprinzip gilt auch im Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, sodass letztere grundsätzlich ebenfalls nur zugunsten der Arbeitnehmer vom Tarifwerk abweichen dürfen. Daneben gibt es aber auch bestimmte Arbeitsbedingungen, die einer tarifvertraglichen Regelung vorenthalten sind (s. §§ 77 III, 87 I Betriebsverfassungsgesetz, kurz: BetrVG).

Tarifvertragliche Arbeitszeitvereinbarung genießt „Verfassungsvorrang”

Zu diesen einem Tarifvertrag vorbehaltenen Regelungspunkten gehört u.a. die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit.

Im Allgemeinen kann nach § 87 I Nr. 2 BetrVG zwar eine Betriebsvereinbarung über Arbeitszeiten getroffen werden. Besteht aber bereits eine tarifvertragliche Regelung, so ist nach §§ 77 III 1, 87 I BetrVG ausschließlich diese zu beachten.

Den Grund für die unangefochtene Vorrangstellung des Tarifvertrags sieht das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 17.05.2011 (Az.: 1 AZR 473/09) in der verfassungsrechtlich garantierten Koalitionsfreiheit der am Tarifschluss beteiligten Gewerkschaft. Wird dennoch eine zusätzliche Betriebsvereinbarung geschlossen, steht der betroffenen Arbeitnehmervereinigung daher ein Beseitigungs- bzw. Unterlassungsanspruch gegen den Arbeitgeber zu.

Der Ausgangsfall

Der Rechtsstreit betrifft die Konkurrenz von Tarifverträgen der IG Metall mit einer Betriebsvereinbarung über die Wochenarbeitszeit. Eine Arbeitgeberin war Mitglied eines Arbeitgeberverbandes der Metall- und Elektroindustrie und wandte die zwischen dem Verband und der IG Metall geschlossenen Tarifverträge an. Nach dem gültigen Regelwerk betrug die regelmäßige Wochenarbeitszeit 35 Stunden. Dennoch vereinbarte die Arbeitgeberin in einer 2006 in Kraft tretenden Betriebsvereinbarung eine wöchentliche Arbeitszeit von insgesamt 40 Stunden. Zudem sah die Vereinbarung einen Ausgleichsbonus für die Arbeitnehmer vor, der aber leistungs- und erfolgsabhängig war. Im August 2008 wurde die Betriebsvereinbarung wieder aufgehoben.

Die IG Metall (Klägerin) verlangte von der Beklagten, die Rechtsnachfolgerin der genannten Arbeitgeberin ist, den betroffenen Arbeitnehmern individuell eine Abgeltung der wöchentlich zusätzlichen fünf Arbeitsstunden zu leisten. Dadurch sollte die Beeinträchtigung ihrer Koalitionsfreiheit durch die konkurrierende Betriebsvereinbarung kompensiert werden.

Gewerkschaften können Beseitigung verlangen, aber keinen finanziellen Ausgleich für die Arbeitnehmer

Das BAG entschied jedoch, dass einer Gewerkschaft, deren verfassungsrechtliche Tarifautonomie durch den Abschluss einer tarifwidrigen Betriebsvereinbarung beeinträchtigt ist, keinen eigenen Anspruch auf den Ausgleich von Entgeltnachteilen zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer hat. Sie sei vielmehr darauf beschränkt, den Arbeitgeber aufzufordern, die Betriebsvereinbarung nicht weiter umzusetzen, also ihre Anwendung zu unterlassen.

Die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft aus Art.9 III GG sei nämlich nicht durch die Vorenthaltung tariflicher Leistung zulasten der Arbeitnehmer beeinträchtigt, sondern ausschließlich durch den Abschluss der nachteiligen und tarifwidrigen Betriebsvereinbarung als solcher. Sobald diese aufgehoben werde, sei aber auch der Eingriff in die Tarifautonomie der Arbeitnehmervereinigung beendet. Und vor ihrer Aufhebung könne die Gewerkschaft Lohnverluste der Arbeitnehmer ebenso wenig als (eigenen) Schaden geltend machen.

Wer Mitglied einer Gewerkschaft ist, genießt einerseits verschiedene Vorteile, muss aber andererseits Beitragszahlungen erbringen. Auch nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (sog. Außenseiter) profitieren jedoch häufig von tarifvertraglichen Regelungen, sei es, weil ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde oder weil er kraft (individueller) Vereinbarung in ihren Arbeitsvertrag einbezogen wurde.

Manch ein Gewerkschaftsmitglied dürfte sich angesichts dieser Sachlage schon gefragt haben, warum man dann überhaupt noch Beiträge zahlen soll, wenn doch auch Außenseiter – zumindest in gewissem Umfang – begünstigt werden…

Tarifvertragsrecht darf einseitig Gewerkschaftsmitglieder begünstigen,…

Um nun zu verhindern, dass Arbeitnehmer aus einer Gewerkschaft austreten bzw. gar nicht erst Mitglied werden, versuchen Arbeitnehmervereinigungen immer wieder, tarifvertraglich bestimmte Privilegien zu vereinbaren, die nur ihren Mitgliedern zustehen.

Dies geschieht u.a. durch sog. „einfache Differenzierungsklauseln”, durch die sich der Arbeitgeber verpflichtet, bestimmte Sonderleistungen ausschließlichen den Mitgliedern seines Tarifvertragspartners zuzuwenden. Diese Praxis hat das Bundesarbeitsgericht auch bislang gebilligt, denn die Funktion einer Gewerkschaft besteht ja gerade darin, den Inhalt der Arbeitsverträge ihrer Mitglieder positiv zu beeinflussen.

In einer weiteren Entscheidung hat sich das Gericht aber gegen sog. „Abstands-” oder „Spannensicherungsklauseln” gewandt (Az.: 4 AZR 366/09, Urteil vom 23.03.2011).

…aber nicht zu einer permanenten Schlechterstellung anderer Arbeitnehmer führen

Mit einer „Spannensicherungs-” oder „Abstandsklausel” wollen Gewerkschaften eine dauerhafte und uneinschränkbare Privilegierung ihrer Mitglieder erreichen.

Wenn z.B. ein Arbeitgeber den Angestellten, die nicht Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind, zum Ausgleich für einen nur Gewerkschaftsmitgliedern zustehenden Vorteil eine bestimmte Leistung (z.B. Lohnerhöhung um die Summe X) zukommen lassen will, dann soll er kraft der Abstandsklausel verpflichtet sein, den Gewerkschaftsmitgliedern dieselbe Begünstigung (im Beispiel also ebenfalls eine Lohnsteigerung um den Betrag X) einzuräumen.

Mit anderen Worten: Egal, in welcher Form der Arbeitgeber den anderen Arbeitnehmern eine (ausgleichende) Leistung gewährt, die Gewerkschaftsmitglieder haben stets einen Anspruch auf dieselbe Leistung und werden so permanent bevorzugt.

Eine derartige Konstruktion ist nach dem BAG jedoch unwirksam, da sie die „Tarifmacht” der Arbeitnehmervereinigungen überschreitet. Denn diese erlaubt es den Gewerkschaften nur, den Inhalt der Arbeitsverhältnisse ihrer eigenen Mitglieder verbindlich mitzubestimmen.

Was der Arbeitgeber hingegen mit seinen übrigen Angestellten vereinbart, unterliegt allein seiner Gestaltungsfreiheit. Er muss daher die Möglichkeit haben, zwar einerseits Gewerkschaftsmitgliedern bestimmte Privilegien einzuräumen, aber andererseits den hiervon ausgeschlossenen Arbeitnehmern wenigstens einen Ausgleich gewähren können, um letztlich eine Gleichstellung all seiner Angestellten herbeizuführen.

Der Ausgangsfall

Die oben genannte Entscheidung betrifft die Gewerkschaft „ver.di”, die 2008 mit einem Unternehmen der Hafen-Logistik (Kläger) einen Tarifvertrag über „Erholungsbeihilfen” geschlossen hatte. Nach dem Regelwerk (Ziffer I) hatten nur ver.di-Mitglieder einen Anspruch auf diese Leistung, die sich pro Jahr auf 260,- € belaufen sollte.

Für den Fall, dass der Kläger auch den Arbeitnehmern, die keiner oder einer anderen Gewerkschaft angehören, „entsprechende oder sonstige Leistungen” erbringen sollte, war er nach Ziffer V des Tarifvertrags verpflichtet, diese zusätzlich auch den ver.di-Mitgliedern zu gewähren. Ver.di-Mitglieder sollten also von der tarifvertraglichen Erholungsbeihilfe und von vergleichbaren Leistungen an die übrigen Arbeitnehmer profitieren.

Der Kläger begehrte daher die arbeitsgerichtliche Feststellung, dass die einfache Differenzierungsklausel (Ziffer I) sowie auch die Abstandsklausel in Ziffer V des Tarifvertrags über Erholungsbeihilfen unwirksam waren.

Das BAG bestätigte nun zwar die Wirksamkeit der Differenzierungsklausel, sodass die tarifvertragliche Erholungsbeihilfe tatsächlich nur ver.di-Mitgliedern zusteht. Die Abstandsklausel hielt es jedoch für unwirksam, sodass der Kläger den übrigen Arbeitnehmern entsprechende Leistungen erbringen kann, auf die wiederum die Gewerkschaftsmitglieder keinen (zusätzlichen) Anspruch haben.