Mehrere Arbeitsunfälle (Fahrgastsuizide) als Ursache einer PTBS denkbar

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In dem Maße, in dem vermehrt über die belastenden Umstände von Auslandseinsätzen der Bundeswehr diskutiert wird, gerät auch das Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung (kurz: PTBS) verstärkt in das öffentliche Interesse.

Dabei handelt es sich jedoch um eine Erkrankung, der auch andere Berufsgruppen ausgesetzt sein können. Dennoch ist die PTBS (noch) keine anerkannte Berufskrankheit im Sinne der Berufskrankheitenverordnung. Betroffenen bleibt daher nur der Weg, eine Quasi- oder Wie-Berufskrankheit (§ 9 II SGB VII) oder einen Arbeitsunfall (§ 8 SGB VII) geltend zu machen, um einen Ausgleich für erlittene Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erhalten.

Mit diesem Kontext beschäftigt sich u.a. ein Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 17.12.2009 (Az.: L 2 U 1014/05). Dort ging es um folgenden Fall: Ein 1953 geborener Mann (Kläger) war seit 1989 als U-Bahn-Fahrer tätig. Am 18.01.1993 warf sich eine Person in Suizidabsicht vor die von ihm geführte Bahn und kam zu Tode. Im Februar 1995 musste er einen Fahrgastunfall auf dem Nebengleis mit ansehen. Noch im Oktober desselben Jahres, überrollte er eine weitere Person, die offenbar bereits von dem vor ihm verkehrenden Zug unbemerkt überfahren und durch einen Stromstoß getötet worden war. Die zuständige Berufsgenossenschaft (Beklagte) erkannte aufgrund dieser Arbeitsunfälle das Vorliegen „anteiliger Restsymptome” einer PTBS an, verweigerte aber eine Verletztenrente, da die Erwerbsfähigkeitsminderung (MdE) des Klägers kleiner als 20 sei. Schließlich nahm der Kläger am 23.11.1999 bei der Einfahrt in einen U-Bahnhof eine Person war, die sich in einer Fahrgastnische versteckte, dann aber plötzlich auf die Schienen zuging und (scheinbar) vor die einfahrende Bahn lief. Er nahm eine Notbremsung vor, eine verletzte Person konnte jedoch nicht aufgefunden werden. Der Kläger kam mit einem Schock ins Krankenhaus und war infolge einer „akuten Belastungsreaktion” arbeitsunfähig. Der Beklagten leitete er ein ausführliches Protokoll dieses Vorfalles zu, in dem er genau die Bekleidung der Person, ihren Aufenthaltsort und seine Reaktionen beschrieb. Bei einem Gespräch mit der Beklagten gab er an, das Ereignis habe ihn stark an den ersten Unfall von 1993 erinnert. In einer Gesprächsnotiz vermerkte die Beklagte, dass das Ereignis als Arbeitsunfall in Sinne von § 8 SGB VII zu werten sei. Ferner bewilligte sie zehn Gesprächstherapietermine bei einer Fachärztin. Diese war nach Abschluss der Therapie der Ansicht, dass 25 weitere Sitzungen erforderlich seien, um die Behandlung des Klägers erfolgreich abzuschließen. Anderenfalls drohe eine Chronifizierung der PTBS. Die Beklagte holte daraufhin eine beratungsfachärztliche Stellungnahme ein, die zu dem Ergebnis kam, dass am 23.11.1999 gar kein Unfall stattgefunden habe, sondern eine reine „Geistererscheinung”. Folglich sei die Beklagte nicht zu Leistungen verpflichtet, weswegen diese die Finanzierung weiterer Therapiesitzungen auch tatsächlich ablehnte. Dem Kläger teilte sie mit, seine Ängste, Schlafstörungen und Albträume seien nicht auf dieses Ereignis zurückzuführen, vielmehr seien sie in seiner Persönlichkeit begründet. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage auf Bewilligung weiterer Therapiestunden.

In dem folgenden Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin verneinte ein Sachverständiger das Vorliegen einer PTBS und machte für die psychischen Probleme des Klägers dessen familiäre Situation (Scheidung) und Gesundheit (Zuckererkrankung, Herzinfarkt, schwere Lungenentzündung, Depressionen) verantwortlich. Andere Ärzte und Sachverständige bescheinigten ihm hingegen u.a. das Vorliegen einer PTBS. Letztlich wies das SG Berlin die Klage jedoch ab.

Im Verfahren vor dem Landessozialgericht bestätigte ein weiterer Gutachter die PTBS, die auf mehreren Ereignissen beruhe. Der Vorfall von 1999 habe die noch nicht ausreichend verarbeiteten Traumafolgen reaktiviert. Eine umfängliche und langfristige Therapie könne jedoch die Erwerbsfähigkeit des Klägers wieder zur Gänze herstellen. Auch hier verneinten andere Sachverständige erneut das Vorliegen einer PTBS. Dennoch obsiegte der Kläger schließlich, da er nach Auffassung des Gerichts infolge eines Arbeitsunfalls vom 23.11.1999 Leistungen zur Heilbehandlung und Rehabilitation nach §§ 26, 27 SGB VII verlangen könne.

Zu dem Vorfall vom 23.11.1999 führt das Gericht aus, Arbeitsunfälle seien Unfälle, die sich anlässlich einer Verrichtung ereigneten, die der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei (hier: Führen einer U-Bahn), und die kausal auf dieser beruhten. Ein Unfall sei dabei als zeitlich begrenztes, äußerlich auf den Körper einwirkendes Ereignis zu definieren, das zum Tod des Versicherten bzw. zu einem Gesundheitsschaden geführt haben muss (§ 8 I 2 SGB VII). Da sich nach der Wahrnehmung des Klägers eine Person unmittelbar auf den von ihm geführten einfahrenden Zug zubewegte, habe am 23.11.1999 die „unmittelbar drohende Gefahr” bestanden, dass es erneut zu einem tödlichen Unfall komme. Das Gericht wertete das Geschehen auch nicht als bloße „Geistererscheinung”, sondern schenkte dem überzeugenden Vortrag des Klägers Glauben, der vor Gericht detaillierte Angaben machen konnte, ohne gegenüber seinem Protokoll von 1999 und weiteren Schilderungen gegenüber verschiedenen Ärzten dramatisierend abzuweichen. Im Ergebnis sei eine „ganz außergewöhnliche Stresssituation” anzuerkennen, die als Unfallereignis infolge äußerer geistig-seelischer Einwirkung zu werten sei.

Dieser Arbeitsunfall habe auch zu einem Gesundheitsschaden geführt, und zwar zunächst in Form eines Schocks, später in Gestalt einer PTBS.

Zudem sei er die rechtlich wesentliche Ursache der PTBS. Hierfür sei entscheidend, dass das versicherte Unfallereignis zumindest wesentliche Teilursache der Gesundheitsbeeinträchtigung sei. Dies sei wiederum der Fall, wenn die Umstände des Einzelfalls bei vernünftiger Abwägung den wesentlichen Ursachenzusammenhang von Unfall und Schaden nachdrücklich belegen und keine ernsthaften Zweifel mehr an diesem Kausalitätszusammenhang bestehen. Erforderlich sei ein Positivbeweis, es genüge nicht, lediglich Alternativursachen auszuschließen. Hier schloss sich das Gericht den Gutachten verschiedener Sachverständiger an, die nachwiesen, dass die PTBS des Klägers auf den erlebten Fahrgastunfällen beruht. Zwar könne nicht im Einzelnen bestimmt werden, welcher Verursachungsbeitrag den Vorfällen jeweils zuzuweisen sei. Dies sei aber unschädlich, weil etwaige Vorschäden aus den ersten zwei Unfallereignissen, ebenfalls auf versicherten Arbeitsunfällen beruhen.

Schließlich schloss das Gericht aus, die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers könnten aus familiären oder anderweitigen gesundheitlichen Problemen als Konkurrenzursachen resultieren. Es sei nicht nachvollziehbar, dass verhältnismäßig alltägliche Ereignisse und Erkrankungen wie das Scheidungsverfahren, der Herzinfarkt oder die Lungenentzündung zu einer PTBS geführt haben sollen, während herausragende Geschehnisse, nämlich mehrere tödliche Fahrgastunfälle bzw. Suizide, für diese ohne jede Bedeutung seien. Diese Argumentation sei nicht überzeugend – und so folgte das Gericht stattdessen den Gutachten, die die PTBS auf die erlittenen Arbeitsunfälle stützten. Zudem sei das Ereignis vom 23.11.1999 auch geeignet gewesen, diese hervorzurufen.

Der Kläger obsiegte also doch noch. Der Fall zeigt allerdings deutlich, wie sehr Betroffene zum „Spielball” der medizinischen Sachverständigen werden, und zu welch unterschiedlichen Ergebnissen die Gutachter jeweils kommen können…

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