GdB und Nachteilsausgleiche bei Mukoviszidose
[box type=”info”]Mukoviszidose, auch zystische Fibrose genannt, ist eine (rezessiv) vererbliche, angeborene Stoffwechselkrankheit, die zu einer Fehlfunktion aller sekretabsondernden Drüsen führt. Besonders betroffen sind dabei die Bronchialdrüsen, aber auch die Bauchspeicheldrüse, was eine spezielle, enzymreiche Ernährung erforderlich macht. Anzeichen der Mukoviszidose können u.a. starker Husten, Atemnot und erhöhter, durchfallähnlicher Stuhlgang sein, aber auch bläuliche, auf Sauerstoffmangel beruhende Verfärbungen beispielsweise der Lippen.[/box]
Einigkeit besteht darüber, dass Mukoviszidose-Patienten als schwerbehindert anzuerkennen sind. Allerdings gehen die Meinungen darüber, in welcher Höhe der individuelle Grad der Behinderung (GdB) zu bemessen ist, und welche Nachteilsausgleiche den Betroffenen zustehen, durchaus auseinander.
Insbesondere hat sich der Bemessungsspielraum des GdB geändert, was nach einem Urteil des Landessozialgerichts Bayern vom 28.01.2010 (Az.: L 15 SB 5/03) aus rechtlichen Gründen eine Herabsetzung des bisherigen GdB eines Mukoviszidosepatienten rechtfertigt. Früher, unter Geltung der sog. AHP (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht) mit Stand vom Jahre 1983, war die geringgradige Mukoviszidose mit einem GdB von 50 – 60, die mittelgradige mit 70 – 80 und die schwergradige Mukoviszidose mit einem GdB von 90 – 100 anzuerkennen. Demgegenüber erfassten die AHP in der Fassung von 1996 die leichte Mukoviszidose mit einem GdB von 30 – 40, die mittelgradige Form mit 50 – 60 (später auf 50 – 70 ausgedehnt) und erst die schwerste Form der Mukoviszidose mit einem GdB von 70 – 100.
Da es sich bei diesen AHP – ebenso wie bei den diese seit dem 01.01.2009 ersetzenden VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze) – um ein Regelwerk handelt, das auf besonderer medizinischer Sachkunde fußt und die möglichst einheitliche Bewertung aller Schwerbehinderten Deutschlands sicherstellen soll, sind die zuständigen Verwaltungsbehörden und Gerichte an deren Vorgaben gebunden. Daher sei nach § 48 I 1 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) eine Rückstufung des GdB vorzunehmen, wenn sich die GdB-Vorgaben in den AHP – jetzt VMG – entsprechend ändern. Den zuständigen Behörden stehe insofern kein Ermessensspielraum zu.
Das genannte Urteil betrifft den Fall eines 1981 geborenen Mukoviszidose-Patienten (Kläger), dem mit Bescheid von 1983 ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen „G“ (Gehbehinderung) und „H“ (Hilflosigkeit) zuerkannt wurden. Neben der Mukoviszidose wurde auch eine Neurodermatitis berücksichtigt. Drei Jahre später kamen die Merkzeichen „B“ (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und „RF“ (Befreiung von Rundfunkgebühren) hinzu. Diese Einstufung wurde mehrmals bestätigt, zuletzt mit Bescheid aus dem Jahre 1991. Da sich sein gesundheitlicher Gesamtzustand in den 1990er Jahren vorübergehend besserte, wurde sein GdB mit Bescheid von 1998 auf 60 herabgesetzt und die Merkzeichen „B“, „H“ und „RF“ entfielen. Hierbei wurde – neben den oben genannten neuen GdB-Werten der AHP 1996 – u.a. berücksichtigt, dass der Kläger nicht als pflegebedürftig galt und dabei war, einen Schulabschluss zu erlangen. Seit 2000 hat sich sein Zustand leider wieder verschlimmert. Er leidet u.a. unter vermehrtem Auswurf, starkem Husten, v.a. auch nachts kombiniert mit Schweißattacken sowie leicht bläulich verfärbten Lippen. Er reagiert auf Stress mit Atemnot, wie er auch überhaupt nur in eingeschränktem Maße über die Nase atmen kann. Insgesamt befinde er sich, laut Arztbericht, in „mäßig gutem Allgemeinzustand“. Später kamen noch Lungenblutungen, ein Gallensteinleiden und eine chronische Darmentzündung mit Darmverschluss-Symptomatik hinzu. Trotz all dieser Beeinträchtigungen hat der Kläger es aber geschafft, seine Schullaufbahn ebenso erfolgreich wie seine Berufsausbildung abzuschließen! Seitdem arbeitet er als Mediengestalter und gilt nach wie vor nicht als pflegebedürftig. Alles in allem leidet er an einer mittelgradigen Mukoviszidose.
Nachdem das Sozialgericht Augsburg bereits 2002 entschieden hat, dass der GdB des Klägers wieder auf 70 heraufzusetzen sei, wurde im vorliegenden Rechtsstreit vor dem LSG Bayern darum gerungen, ob der GdB stattdessen sogar wieder mit 100 anzusetzen und die Merkzeichen „B“ und „H“ weiterhin zuzuerkennen seien.
Bereits nach den obigen Ausführungen kann man sich denken, dass das LSG Bayern die 1998 erfolgte Rückstufung des GdB nach den damals anzuwendenden AHP 1996 für rechtmäßig hält. Insoweit hätten sich nicht nur wesentliche rechtliche Veränderungen ergeben, sondern auch tatsächliche, da es dem Kläger in den 1990er Jahren verhältnismäßig gut gegangen sei. Selbst zum jetzigen Zeitpunkt, in dem sich der Gesundheitszustand wie beschrieben leider wieder verschlechtert hat, habe ein Sachverständiger festgestellt, dass ein GdB von 80 – 100 nicht gerechtfertigt sei. Daraus schließt das LSG Bayern, dass ein höherer GdB als 70 dann erst recht nicht für einen Zeitraum anzuerkennen sei, in dem es dem Kläger nachgewiesenermaßen besser gegangen sei im Entscheidungszeitpunkt.
Sodann wendet sich das Gericht der Frage zu, ob der klagende Mukoviszidose-Patient einen Anspruch auf die Merkzeichen „B“ und „H“ habe.
Der Nachteilsausgleich „B“ berechtigt nicht nur zur kostenlosen Nutzung des ÖPNV, sondern zusätzlich auch noch zur ebenso unentgeltlichen Mitnahme einer Begleitperson. Nach dem damals anzuwendenden Recht (§ 60 II Schwerbehindertengesetz) war eine ständige Begleitung dann notwendig, wenn ein Schwerbehinderter bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs auf fremde Hilfe angewiesen ist, um Gefahren für sich oder andere abzuwenden. Erfasst waren z.B. Querschnittsgelähmte, Blinde, manche Seh- bzw. Hörbehinderte oder auch geistig Behinderte. Entsprechendes gilt auch heute nach den VMG. Der Kläger habe diese Voraussetzung aber nur erfüllt, solange er ein Kind gewesen sei, während nunmehr davon auszugehen ist, dass er als Erwachsener aus medizinischer Sicht in der Lage ist, ohne fremde Hilfe mit Bahn, Bus oder Zug zu fahren.
Aber auch der Nachteilsausgleich „H“ stehe dem Kläger nicht mehr zu. Die von diesem Merkzeichen vorausgesetzte Hilflosigkeit sei nach den §§ 3 und 33b IV 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu bestimmen. Hilflos ist demnach, wer eine Reihe häufig oder regelmäßig vorzunehmender Verrichtungen, die für die Sicherung der eigenen persönlichen Existenz alltäglich erforderlich sind, nicht (mehr) ohne fremde Hilfe erledigen kann. Dabei kann sich die Hilfe auch auf bloße Überwachung oder Anleitung beschränken. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, wie weit der Betroffene selbstständig die tägliche Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) vornehmen kann, während hauswirtschaftliche Versorgungen außer Acht gelassen werden. Als erheblich gilt die Hilflosigkeit, wenn die Summe der nicht ohne fremden Beistand ausführbaren Verrichtungen die der noch selbstständig zu erledigenden Tätigkeiten überschreitet. Maßgeblich ist, ob jemand zumindest drei Verrichtungen nicht mehr ohne fremde Hilfe erheblichen Umfangs erledigen kann. Als nicht hilflos gilt jedoch, wer täglich nur etwa eine Stunde auf fremde Hilfe angewiesen ist. Hinreichend erheblich ist die Hilflosigkeit erst, wenn ein anderer wenigstens zwei Stunden pro Tag helfend zur Seite stehen muss.
Dabei bestehen nach den AHP bzw. VMG Sonderregelungen für Kinder, die wesentlich eher als hilfsbedürftig anzusehen sind als Erwachsene. Dies rechtfertigt es andererseits, das weitere Vorliegen der Hilflosigkeit mit zunehmendem Alter des Patienten in Frage zu stellen, wenn nicht gar auszuschließen. Übertragen auf den vorliegenden Fall ist daher anzunehmen, dass Mukoviszidose-Patienten bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres pauschal als hilflos gelten und nur bei schweren bis schwersten Einschränkungen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres weiterhin Hilflosigkeit angenommen werden kann. Da dies beim Kläger nicht der Fall gewesen sei, verneinte das LSG Bayern dessen fortgesetzte Hilflosigkeit, sodass das Merkzeichen „H“ 1998 aberkannt werden durfte. Insbesondere gelangte der entscheidende Senat zu der Überzeugung, dass der Kläger gelernt habe, für ihn notwendige Therapiemaßnahmen und sonstige Verrichtungen, z.B. das regelmäßige Inhalieren oder die Desinfektion verwendeter Geräte, selbstständig und eigenverantwortlich durchzuführen. Auch bestehe kein täglicher erheblicher Hilfsbedarf bei der Grundpflege im Sinne des EStG.
Folglich wies das LSG Bayern die Berufung des Klägers als unbegründet ab.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!