Keine außergewöhnliche Gehbehinderung („aG“) trotz Lumbalgie, Wirbelkörperfraktur und Varikosis
Der deutsche Sozialstaat gewährt anerkannten Schwerbehinderten einen gewissen Ausgleich ihrer körperlichen, seelischen und/oder geistigen Beeinträchtigung u.a. in Form der sog. Nachteilsausgleiche. Mit der Eintragung eines entsprechenden Merkzeichens in den Schwerbehindertenausweis des Betroffenen erlangt dieser bestimmte Ansprüche, wie z.B. auf kostenlose Beförderung im Öffentlichen Personennahverkehr, auf Befreiung von der Rundfunkgebühr oder steuerliche Vergünstigungen.
Die Rechtsprechung kann aber zuweilen recht streng sein, wenn es darum geht, nicht nur eine einfache Gehbehinderung (= Merkzeichen „G“), sondern darüber hinaus eine „außergewöhnliche“ Gehbehinderung anzuerkennen. Gefordert wird hier, dass man entweder zu dem in den einschlägigen Regeln (§ 69 IV SGB IX in Verbindung mit § 6 I Nr. 14 StVG und Nr. 11 Abschnitt II, Nr. 1 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 I Nr. 11 StVO) genannten Personenkreis gehört (z.B. Querschnittsgelähmte, Hüftexartikulierte, ein- bzw. beidseitig Oberschenkelamputierte), oder dass man diesem gleichgesetzt werden kann. Dies setzt wiederum voraus, dass einerseits die Fortbewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, und dass jemand andererseits außerhalb von Kraftfahrzeugen entweder auf die Hilfe anderer angewiesen ist oder sich nur noch unter großen Anstrengungen selbstständig fortbewegen kann. Ein völliger Verlust der Gehfähigkeit wird nicht verlangt.
Dass diese Voraussetzungen nicht leicht zu erfüllen sind, musste eine heute (2010) 73jährige Frau (Klägerin) nach jahrelangem Rechtsstreit erkennen. Bereits 1988 war der Klägerin wegen periodisch auftretenden Lendenschmerzen (rezidivierende Lumbalgien), Veränderungen der Wirbelsäule und einem Krampfaderleiden (Varikosis) ein individueller Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt worden. 1997 beantragte sie die Neufeststellung ihres GdB, da sie immer häufiger beim Gehen oder Treppen steigen plötzliche Rückenschmerzen habe und deshalb längere Pausen einlegen müsse. Mit Wirkung zum 05.12.1997 wurde ihr GdB daher auf 40 erhöht. Nun forderte die Klägerin, dass diese Erhöhung des GdB rückwirkend bis zum Jahr 1993 festzustellen sei. Schon 1976 habe sie sich eine Wirbelkörperfraktur zugezogen, deren Auswirkungen bislang schwerbehindertenrechtlich außer Acht gelassen worden seien. Die zuständige Behörde lehnte diesen Antrag mangels hinreichender Nachweise jedoch ab.
Ende 1998 erhob die Dame Klage zum Sozialgericht Nürnberg. Sie begehrte die rückwirkende Feststellung ihres GdB in Höhe von 50 für die Jahre 1993 – 1996 und von 70 seit 1997. Ferner wünschte sie die Eintragung des Merkzeichens „aG“, da sie außergewöhnlich gehbehindert sei: Sie müsse oftmals wegen starker Schmerzen stehen bleiben, und dass sogar beim Überqueren einer Straße, weshalb für sie schon mehrmals Lebensgefahr bestanden habe. Sie sei deshalb auf die beständige Begleitung ihres Ehemannes oder die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen. Allerdings seien ihr auch die Verrenkungen beim Einparken sowie beim Ein- und Aussteigen nicht zuzumuten, weshalb sie die Erlaubnis zur Nutzung von Behindertenparkplätzen begehre. Der gerichtlich bestellte Sachverständige bestätigte indes, dass die bisherige Bewertung des GdB der Klägerin angemessen sei und dass sie keinen Anspruch auf das Merkzeichen „aG“ habe.
Die Berufung, die die Klägerin 2000 einlegte, führte zumindest insoweit zum Erfolg, als das Landessozialgericht Bayern (Az.: L 18 SB 6/00) mit Urteil vom 05.07.2000 das Sozialgericht Nürnberg anwies, weitere Gutachten einzuholen, da der Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt sei.
Im erneuten Verfahren vor dem SG Nürnberg erklärte der neue Sachverständige, dass der GdB der Klägerin für die Jahre 1993 – 1996 mit 30, von 1997 – Juni 2005 mit 40 und seit Juli 2005 mit 50 zu bewerten sei, da sie seit kurzem auch noch unter Diabetes mellitus leide. Trotz Wirbelkörperfraktur, Osteoporose und Schmerzsyndrom könne bis Mai 2005 jedoch kein höherer GdB als 40 anerkannt werden. Schon diese Bewertung sei relativ großzügig. Insbesondere lägen die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ nicht vor: Die Klägerin benutze noch nicht einmal eine Gehhilfe und könne durchaus noch einige hundert Meter gehen. In ihrem Ergebnis wurde diese Begutachtung von einem weiteren Arzt bestätigt, sodass das SG Nürnberg im November 2005 entschied, dass die zuständige Behörde (Beklagte) ab Juli 2005 einen GdB von 50 anzuerkennen habe, wies die Klage aber im Übrigen ab. Dieser Pflicht kam die Beklagte im März 2006, rückwirkend zum 01.07.2005, nach.
Ebenfalls im März 2006 legte die Klägerin erneut Berufung beim LSG Bayern ein. Dieses Mal begehrte sie die Feststellung eines GdB von 60 für die Jahre 1993 – 1996, von 70 für die Jahre 1997 – Juni 2005 und seither einen GdB von 80. Weiterhin begehrte sie die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“, oder zumindest eine spezielle Genehmigung zur Nutzung von Behindertenparkplätzen. Letzteres stützte sie vor allem auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I des Grundgesetzes.
Das LSG Bayern holte daraufhin drei weitere Gutachten ein: Ein phlebologisches Gutachten – bezüglich der Venenleiden der Klägerin – kam zu dem Ergebnis, dass gegenüber 1988 keine relevanten gesundheitlichen Veränderungen eingetreten seien. Es liege mehr eine Steh- oder Sitz- anstatt einer Gehbehinderung vor. „Unter keinen Umständen“ lägen die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ vor und auch die bisherige GdB-Bewertung falle sehr großzügig aus. In einem weiteren Gutachten wird vertreten, aus neurologisch-psychiatrischer Sicht sei überhaupt kein GdB zu begründen, was auch für eine außergewöhnliche Gehbehinderung gelte. Schließlich wurde noch ein fachorthopädisches Gutachten eingeholt, in dem ebenfalls eine großzügige Bewertung des GdB der Klägerin bescheinigt wurde. Eine weitere Erhöhung sei ebenso wenig geboten wie die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“. Die Klägerin sei in der Lage, mit ausreichender Sicherheit zu stehen oder auch zu gehen, und das ganz ohne Nutzung irgendwelcher orthopädischen Hilfsmittel.
Es wird wohl kaum überraschen, dass das LSG Bayern mit Urteil vom 01.12.2009 (Az.: L 15 SB 45/06) entschieden hat, dass die Berufung der Klägerin als unbegründet abzuweisen sei.
Zum einen sei an der bisherigen Feststellung eines GdB von 30 für die Jahre 1993 – 1996, in Höhe von 40 zwischen 1996 und Juni 2005 sowie von 50 seit Juli 2005 festzuhalten.
Zum anderen fehle aber auch eine außergewöhnliche Gehbehinderung, die die Anerkennung des Merkzeichens „aG“ rechtfertige. So gehöre die Klägerin bereits nicht zu den in den einschlägigen Vorschriften (s.o.) genannten Personen, die eindeutig als außergewöhnlich gehbehindert anzuerkennen seien.
Sie könne diesen Personengruppen aber auch nicht gleichgestellt werden. Ihre Einwendungen, sie müsse sogar beim Überqueren von Straßen stehenbleiben, sei daher auf ihren Ehemann bzw. ein Kraftfahrzeug angewiesen und leide zudem sehr unter den für das Einparken erforderlichen „Verrenkungen“, seien im Ergebnis für die Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliege, nicht relevant. Von Bedeutung sei allein, ob jemand außerhalb von Kraftfahrzeugen auf fremde Hilfe angewiesen ist oder sich nur unter großer Kraftanstrengung fortbewegen kann. Plötzliche, stechende Schmerzen beim Gehen seien aber nicht per se mit „großer Anstrengung“ gleichzusetzen. Zudem dürfe vorliegend nicht missachtet werden, dass selbst ein Orthopäde „keinerlei Begründung“ für eine außergewöhnliche Gehbehinderung zu finden vermochte. Dies entspreche im Übrigen auch der persönlichen Wahrnehmung des Senats von der Klägerin während der mündlichen Verhandlung. Nach alledem musste das LSG Bayern folglich die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ verweigern.
Schließlich weist das Landessozialgericht noch darauf hin, dass ein Anspruch für die Berechtigung zur Nutzung von speziellen Behindertenparkplätzen nicht aus Art. 3 I des Grundgesetzes abgeleitet werden könne. Denn die Ungleichbehandlung außergewöhnlich Gehbehinderter einerseits und anderer Personen mit Rücken- bzw. Wirbelsäulenleiden andererseits sei keinesfalls willkürlich, sondern dem unterschiedlichen Grad der körperlichen Beeinträchtigung geschuldet.
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