Gesetzliche Unfallversicherung: Kein Versicherungsschutz für behinderte Menschen im Förder- und Betreuungsbereich

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Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, der bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten eingreift, setzt stets zunächst voraus, dass jemand überhaupt Versicherter ist. Der Kreis der Berechtigten ergibt sich aus § 2 SGB VII (Siebtes Buch des Sozialgesetzbuchs), der einen ganzen Katalog versicherter Personengruppen aufführt und der durch die §§ 3 ff. SGB VII ergänzt wird.

Trotzdem kann die Beantwortung der Frage, ob Versicherungsschutz besteht, im Einzelfall problematisch sein. Das zeigt ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.01.2011 (Az.: B 2 U 9/10 R) zur Versicherung (schwer-)behinderter Menschen.

Der Ausgangsfall

Geklagt hatte ein 1972 geborener Schwerbehinderter, der seit 1992 im Förder- und Betreuungsbereich (FBB) einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) betreut wird. Dort soll durch stetig wechselnde Aufgaben seine Selbstständigkeit und Leistungsfähigkeit gefördert werden, damit er die praktischen Aufgaben des alltäglichen Lebens besser bewältigen kann. Zudem soll er in eine sinnvolle Tagesstruktur eingebunden werden.

Auf dem Weg zum FBB verletzte sich der Kläger im Januar 2006 jedoch: Er prallte mit dem Kopf gegen die Eingangstür des FBB, wobei ihm die Krone eines Schneidezahnes abbrach. Seither streitet er mit der Beklagten darum, ob es sich bei diesem Vorfall um einen Arbeitsunfall im Sinne von § 8 SGB VII in Form eines Wegeunfalls handelt.

Versicherungsschutz (nur) für Behinderte in anerkannten Werkstätten (WfbM)

Ist ein behinderter Mensch von einem Geschehen betroffen, das einen Arbeitsunfall darstellen könnte, denkt man, wenn man das SGB VII aufschlägt, zuerst an die Versichertengruppe des § 2 I Nr. 4 SGB VII. Nach dieser Vorschrift sind Behinderte unfallversichert, die „in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen oder in Blindenwerkstätten (…) oder für diese Einrichtungen in Heimarbeit tätig sind”.

Nach Ansicht des BSG ist dieser Tatbestand jedoch auf Behinderte beschränkt, die in einer entsprechenden Einrichtung beschäftigt sind. Personen, die in einen Förder- und Betreuungsbereich aufgenommen sind, sollen demgegenüber auch dann nicht versichert sein, wenn der FBB der Werkstatt angegliedert ist (man spricht hier vom „verlängerten Dach” der WfbM).

Dieses für Betroffene höchst nachteilige Ergebnis begründet das Gericht zunächst mit dem Wortlaut von § 136 SGB IX (Neuntes Buch des Sozialgesetzbuchs), der Begriff und Aufgaben der Behindertenwerkstätten definiert. Nach dem dritten Absatz dieser Vorschrift sollen im Förderbereich behinderte Menschen aufgenommen werden, die „die Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt nicht erfüllen”. Sie sollen in „Einrichtungen oder Gruppen betreut und gefördert werden, die der Werkstatt angegliedert sind”. Hieraus schließt das BSG, dass der Förderbereich strikt von der eigentlichen Werkstatt zu unterscheiden ist, da er eben „nur” angegliedert und nicht eingegliedert ist und zudem einem anderen Personenkreis offensteht.

Auch sollen sich Behindertenwerkstätten von sonstigen angegliederten Förderungseinrichtungen in ihrer jeweiligen Zwecksetzung unterscheiden: Während die Tätigkeit in den Werkstätten zur Teilhabe am Arbeitsleben und nach Möglichkeit zur Überführung in den allgemeinen Arbeitsmarkt dienen soll, geht es bei den Förderbereichen vorrangig um die soziale Eingliederung und die Förderung alltäglicher, nicht berufsbezogener Fähigkeiten. Dementsprechend setzt die Aufnahme in eine WfbM die Erwartung voraus, dass der Behinderte „ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen” könne (§ 136 II 1 SGB IX), während Fördereinrichtungen nach § 136 III SGB IX keine entsprechenden Zugangsvoraussetzungen kennen. Dieser Unterschied sei zudem schon historisch in den Vorgängervorschriften zu § 136 SGB IX, aber auch in § 2 I Nr. 4 SGB VII, angelegt.

Damit fehlt es nach dem BSG bei den Förderungseinrichtungen an einer Berufs- bzw. Berufsausbildungsbezogenheit, weswegen sie nicht den anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen im Sinne des § 2 I Nr. 4 SGB gleichzustellen sind.

Keine verfassungswidrige Benachteiligung von Behinderten im FBB

Die Unterscheidung zwischen behinderten Menschen, die in Behindertenwerkstätten tätig sind einerseits und solchen, die im (angegliederten) Förderbereich betreut werden andererseits, hält das Bundessozialgericht auch für verfassungskonform.

Insbesondere stelle die Versagung von Versicherungsschutz für Behinderte im Förderbereich keine durch Art. 3 III 2 GG verbotene Benachteiligung Behinderter dar, weil diese Differenzierung nicht an die Behinderung anknüpfe, sondern daran, ob jemand in einer anerkannten Behindertenwerkstatt tätig ist.

Aber auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG sei nicht verletzt, weil die festgestellte Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt sei. Stattdessen wäre es gleichheitswidrig, wenn Behinderte in Fördergruppen abhängig davon den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung genießen könnten, ob sie in einer angegliederten Einrichtung einer WfbM oder in einem vergleichbaren Heim etc. betreut werden. Auch führe die bloße räumliche Nähe zu einer Behindertenwerkstatt nicht zu einem erhöhten Schutzbedarf der im FBB betreuten Personen, sodass auch deshalb eine Ausdehnung des Versicherungsschutzes nicht erforderlich sei.

Die Lösung des Ausgangsfalls

Das Bundessozialgericht gelangte somit zu der Feststellung, dass der Vorfall vom Januar 2006 kein Arbeitsunfall gewesen sei, weil der Kläger nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war.

So schloss das Gericht auch einen Versicherungsschutz nach § 2 I Nr. 1, Nr. 2 und § 2 II 1, I Nr. 1 SGB VII aus: Da das Betreuungsziel die Stärkung des Klägers im „lebenspraktischen Bereich” und die sinnvolle Strukturierung seines Tagesablaufs waren, sei er nämlich weder als Beschäftigter im Sinne von § 2 I Nr. 1, noch als Lernender gemäß § 2 I Nr. 2, noch als sog. Wie-Beschäftigter nach § 2 II 1, I Nr. 1 SGB VII anzusehen. Zwar könnten Behinderte durchaus Arbeitnehmer und damit auch Beschäftigte im Sinne von § 2 I Nr. 1 SGB VII sein. Dies setze aber voraus, dass eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbracht werde, die nicht ausschließlich der Therapie des Behinderten diene. Daran fehlte es hier jedoch (s.o.).