Merkzeichen: Befreiung von Rundfunkgebühren wegen eingeschränkter Mobilität?

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Die staatliche Förderung schwerbehinderter Menschen erfolgt u.a. durch die Gewährung sog. Nachteilsausgleiche. Das bedeutet, dass der Betroffene durch die Eintragung eines oder mehrerer Merkzeichen in den Schwerbehindertenausweis einen Anspruch auf bestimmte Vergünstigungen erhält.

Ist dort das Merkzeichen „RF” eingetragen, ist der Ausweisinhaber z.B. von der Rundfunkgebührenpflicht befreit.

Voraussetzungen der Rundfunkgebührenbefreiung

Der Sinn des Nachteilsausgleichs „RF” besteht darin, Menschen, die wegen einer Behinderung vom öffentlichen Leben praktisch ausgeschlossen sind, wenigstens den Zugang zu Rundfunk- und Fernsehsendungen zu erleichtern.

Nach der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) kommt es für den Befreiungsanspruch daher zunächst darauf an, ob jemand (noch) in der Lage ist, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Auch der individuelle Grad der Behinderung (GdB) und die Art der gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind entscheidend. Die jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen ergeben sich im Einzelfall jedoch aus § 69 IV SGB IX (Neuntes Buch des Sozialgesetzbuchs) in Verbindung mit landesrechtlichen Regen. In Bayern sind dies z.B. die Regelungen des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV).

Mit diesen beschäftigen sich zwei Urteile des Landessozialgerichts Bayern vom 19.04.2011 (Az.: L 15 SB 95/08 und L 15 SB 14/10). Dort geht es vor allem um die Frage, unter welchen Voraussetzungen jemand rechtlich gesehen nicht mehr in der Lage ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Fähigkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen als zentrales Kriterium

Tatsächlich wird nach § 6 I Nr. 7 und 8 RGebStV von den Rundfunkgebühren befreit, wer…

  • …blind ist oder dauerhaft an einer Sehbehinderung mit einem Einzel-GdB von mindestens 60 leidet,
  • …gehörlos oder stark hörgeschädigt ist, oder
  • …langfristig einen individuellen GdB von mindestens 80 besitzt und außerdem wegen seiner gesundheitlichen Leiden ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann.

Ob jemand seh- oder hörgeschädigt im obigen Sinne ist, lässt sich dabei noch relativ einfach bestimmen. Schwierig wird es aber, wenn es vermittels objektiver und allgemeinverbindlicher Maßstäbe festzustellen gilt, ob jemand an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann oder ob ihm dies aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich nicht mehr möglich ist. Wie sich noch zeigen wird, ist die Rechtsprechung hier mitunter recht streng.

Das LSG Bayern jedenfalls hält in den zitierten Entscheidungen zunächst einmal fest, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unter einer öffentlichen Veranstaltung „jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (z.B. Eintrittsgeld) zugänglich gemachte Veranstaltung im Sinn einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art” zu verstehen ist. Erfasst seien „Veranstaltungen politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art, wobei es auf das tatsächliche Angebot von Veranstaltungen im örtlichen Einzugsbereich des Behinderten ebenso wenig ankommt wie auf seine persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse, Neigungen und Interessen”. Von derartigen Veranstaltungen müsse der Betroffene ständig, also „allgemein und umfassend” ausgeschlossen bzw. „praktisch an das Haus/die Wohnung gebunden” sein.

Sodann macht sich das Gericht an die Begründung, weshalb die beiden Kläger der Ausgangsverfahren keinen Anspruch auf Rundfunkgebührenbefreiung haben.

Keine Befreiung von Rundfunkgebühr wegen nicht behindertengerechter Wohnung

Das Verfahren L 15 SB 14/10 betrifft den Fall eines 1929 geborenen Mannes (Kläger), der in einer 25 m2 großen Wohnung in der dritten Etage wohnt, die nur über eine enge Treppe zu erreichen ist.

Zu den erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers zählen eine Funktionsbehinderung beider Knie und eines Hüftgelenks, Polyarthrose, eine Blutgefäßerkrankung, Beingeschwüre, Funktionseinschränkungen der Lunge, Gicht, Bluthochdruck und eine starke Funktionsbeeinträchtigung eines Armes. Auf Grund all dieser Leiden wurden ihm ein inzwischen auf 90 erhöhter individueller GdB sowie mehrere Nachteilsausgleiche zuerkannt. Von den Rundfunkgebühren wurde er jedoch nicht befreit.

Seinen Anspruch auf Zuerkennung auch des Nachteilsausgleichs „RF” begründete der Kläger damit, dass er nicht mehr an öffentlichen politischen Veranstaltungen teilnehmen könne, weil er nicht weiter in der Lage sei, Treppen zu steigen. Seine Wohnung könne er daher nur noch mithilfe zweier Sanitäter verlassen, die ihn durchs Treppenhaus tragen. Zuhause bewege er sich mittels einer Gehhilfe, außerhalb der Wohnung sei er auf einen Rollstuhl angewiesen. Mit Ausnahme von Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten komme er gar nicht mehr vor die Tür.

Dennoch hält ihn das LSG Bayern, gestützt auf medizinische Sachverständigengutachten, für fähig, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Es sei zwar anzunehmen, dass der Kläger an seine Wohnung gebunden sei. Das liege aber vorrangig nicht an seinen gesundheitlichen Leiden, sondern vielmehr an seiner „ungünstige(n) Wohnsituation”. Denn sobald der Kläger mit Hilfe von Sanitätern seine Wohnung verlassen habe, könne er wie jeder andere Rollstuhlfahrer auch durchaus an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Immerhin seien zahlreiche Veranstaltungsorte heutzutage behindertenfreundlich ausgestattet und es sei vollkommen normal, alltäglich und gesellschaftlich akzeptiert, dass Rollstuhlfahrer an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen.

Zur Wohnung des Klägers führt das Gericht vertiefend aus, es könne nicht zugunsten eines Antragstellers berücksichtigt werden, ob seine Wohnung behindertengerecht oder insoweit (völlig) ungeeignet sei. Entscheidend sei für den Nachteilsausgleich „RF” nur, ob jemand gerade wegen seiner Behinderung nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne. Aus demselben Grunde sei nach der gegebenen Rechtslage schließlich auch irrelevant, ob die Anfahrt zu einer öffentlichen Veranstaltung (z.B. mit Hilfe eines speziellen Behindertentransports) persönlich als unzumutbar empfunden werde.

Da der Kläger weder an einer Seh- noch einer Hörbehinderung leidet, lehnte das LSG Bayern daher einen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ab. Die Revision zum Bundessozialgericht wurde nicht zugelassen.

Keine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht wegen unkontrollierbarem Durchfall

Das zweite Verfahren (L 15 SB 95/08) betrifft eine 1962 geborene Frau (Klägerin), die von Geburt an mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen hat. Sie leidet u.a. an Fehlbildungen des Rückenmarks und der Wirbelsäule sowie Verwachsungen im Bauchbereich und konnte deshalb z.B. erst im Alter von 14 Jahren das Laufen lernen. Ihr individueller GdB beträgt 100, ihr wurden mehrere Nachteilsausgleiche zuerkannt.

Trotz ihrer Behinderung war sie lange Zeit berufstätig und gründete eine Familie. Seit den 1990er Jahren kämpft sie aber mit plötzlichen Durchfällen, weshalb sie sich zunehmend aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzog. Noch dazu leidet sie unter der Trennung von ihrem Ehemann sowie an einem zunehmenden Schmerzsyndrom. Zwischenzeitlich hat sich auch ihre Geh- und Standfähigkeit leider wieder erheblich verschlechtert.

Wegen der schlimmer werdenden, unkontrollierten Durchfälle muss die Klägerin sehr häufig zur Toilette. Für Notfälle, falls ihre „Inkontinenzartikel” mal versagen, hat sie stets Wechselwäsche dabei. Sie könne überhaupt nur noch spontan entscheiden, ob sie es wagen kann, ihre Wohnung zu verlassen. Am öffentlichen Leben könne sie nur noch via Fernsehen, Radio, Telefon und PC teilnehmen. Das sei besonders deprimierend, weil sie über einen „gewissen gebildeten Intellekt” verfüge und deshalb „andere Grundbedürfnisse an öffentlichen Veranstaltungen” habe. Sie fühle sich äußerst unwohl, wenn sie in der Oper im Rollstuhl sitze und erkennen müsse, dass ihre Inkontinenzartikel versagen. Kurz, es sei für sie eine „unmenschliche Härte” Rundfunkgebühren zu zahlen.

Auch hier verneint das LSG Bayern unter Berufung auf Sachverständigengutachten auf internistischem und psychiatrischem Gebiet einen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Die Klägerin sein nämlich nicht ständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen.

Den Nachteilsausgleich RF könne nur verlangen, „wer aus physischen Gründen nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann, sei es wegen körperlicher Behinderung, sei es wegen Unzumutbarkeit für die Umgebung”. Trotz ihrer unstreitig ganz erheblichen Behinderung könne die Klägerin jedoch zumindest mit besonderen Hilfsmitteln (Rollstuhl, Windeln und eine Begleitperson) öffentliche Veranstaltungen besuchen.

Auch eine plötzliche „Durchfallattacke” stelle keine der Gesellschaft nicht zuzumutende Geruchsbeeinträchtigung dar, erst recht nicht, wenn die Klägerin vorsichtshalber auf Windeln und Windelhosen zurückgreift. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach dem eine Inkontinenz einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht grundsätzlich entgegenstehe. So habe das BSG 1997 entschieden, dass das Tragen von Windeln als Gegenmaßnahme auf eine bestehende Inkontinenz weder die Menschenwürde des Betroffenen noch das Sozialstaatsprinzip verletze (Az.: 9 RVs 2/96).

Verständnis zeigt das LSG Bayern dennoch für den Rückzug der Klägerin aus dem öffentlichen Leben. Hier weist es aber auf die Vielfalt unterschiedlichster Veranstaltungen hin: Werde im Theater, in der Oper oder im Kino zwar (mehr oder weniger) erwartet, dass man während der Vorstellung an seinem Platz bleibt, so sei in vielen Veranstaltungen eine Kommen und Gehen der Teilnehmer gerade üblich (z.B. Zoobesuch, Museen, Volks- oder Kirchenfeste).

Folglich sei die Klägerin nicht ohne Ausnahme von der Teilnahme an jeder denkbaren Veranstaltung ausgeschlossen. Auf ihre persönlichen Vorlieben und Bedürfnisse könne es, da für alle Behinderten der gleiche Maßstab anzuwenden sei, nicht ankommen. Daher stehe ihr im Ergebnis kein Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkgebühr zu.

Die Revision wurde auch in diesem Verfahren nicht zugelassen.

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